1. Empfindungen und Empfindungsomnplexe | Inhalt | 3. Prinzipialkoordination und „naiver Realismus“
2. Die Entdeckung der Weltelemente
Unter diesem Titel schreibt über Mach der Privatdozent an der Züricher Universität Friedrich Adler, wohl der einzige deutsche Schriftsteller, der ebenfalls Marx durch den Machismus ergänzen möchte.† Und man muß diesem naiven Privatdozenten Gerechtigkeit widerfahren lassen: er leistet dem Machismus durch seine Offenherzigkeit einen Bärendienst. Die Frage wird wenigstens klar und scharf gestellt: Hat Mach wirklich „die Weltelemente entdeckt“? In diesem Fall könnten selbstverständlich nur ganz rückständige und ungebildete Leute heute noch Materialisten bleiben. Oder ist diese Entdeckung Machs eine Rückkehr zu alten philosophischen Irrtümern?
Wir haben gesehen, daß Mach 1872 und Avenarius 1876 auf dem rein
† Friedrich W. Adler, „Die Entdeckung der Weltelemente (Zu E. Machs 70. Geburtstag)“, „Der Kampf“26. 1908. Nr. 5 (Februar). Übersetzt in „The International Socialist Review“27, 1908 Nr. 10 (April). Ein Artikel dieses Adler ist in russischer Übersetzung in dem Sammelband „Der historische Materialismus“ erschienen. 28
idealistischen Standpunkt stehen. Die Welt ist für sie unsere Empfindung. 1883 erschien Machs „Mechanik“, und im Vorwort zur ersten Auflage beruft sich Mach ausdrücklich auf die „Prolegomena“ von Avenarius, indem er die seiner Philosophie [„sehr verwandten“] Ideen begrüßt. Hier die Betrachtung über die Elemente in dieser „Mechanik“: „Alles Naturwissen kann nur Komplexe von jenen Elementen [nachbilden und vorbilden], die wir gewöhnlich Empfindung nennen. Es handelt sich um den Zusammenhang dieser Elemente... D Zusammenhang von A (Wärme) und B (Flamme) gehe der Physik, jener von A und N (Nerven) der Physiologie an. Keiner ist allein vorhanden, beide sind zugleich da. Nur zeitweilig können wir von dem einen oder andern absehen. Selbst die scheinbar rein mechanischen Vorgänge sind also stets auch physiologische.“ (Zit. dtsch. Aufl., S. 499.) Dasselbe in der „Analyse der Empfindungen“ „Wo ... neben oder für die Ausdrücke ‚Element‘, ‚Elementenkomplex‘ die Bezeichnungen ‚Empfindung‘, ‚Empfindungskomplex‘ gebraucht werden, muß man sich gegenwärtig halten, daß die Elemente nur in der bezeichneten Verbindung“ (nämlich: in der Verbindung A, B, C mit K, L, M, d. h. in der Verbindung der „Komplexe, welche man gewöhnlich Körper nennt“, mit dem „Komplex, der unser Leib heißt“) „und Beziehung, in der bezeichnet funktionalen Abhängigkeit Empfindungen sind. Sie sind in anderer funktionaler Beziehung zugleich physikalische Objekte.“ (Russ. Übers., S. 23 und 17 [S. 13 und 7].) „Eh Farbe ist ein physikalisches Objekt, sobald wir z. B. auf ihre Abhängigkeit von der beleuchtenden Lichtquelle (andern Farben, Wärmen, Räumen usw.) achten. Achten wir aber auf ihre Abhängigkeit von der Netzhaut (den Elementen K, L, M ...)‚ so ist sie ein psychologisch Objekt, eine Empfindung.“ (Ebenda, S. 24 [S. 14].)
Also besteht die Entdeckung der Weltelemente in folgendem:
1. Alles Seiende wird für Empfindung erklärt.
2. Die Empfindung werden Elemente genannt.
3. Die Elemente werden in Physisches und Psychisches eingeteilt. Das letztere ist von den Nerven des Menschen‚ vom menschlichen Organismus überhaupt abhängig; das erstere dagegen nicht.
4. Es wird erklärt, daß die physischen und psychischen Elementenzusammenhänge nicht getrennt voneinander existieren; sie existieren nur zusammen.
5. Nur zeitweilig kann man von dem einen oder andern Zusammenhang absehen.
6. Es wird erklärt, daß die „neue“ Theorie nicht „einseitig“ ist.*
Mit Einseitigkeit haben wir es hier allerdings nicht zu tun, sondern mit dem Durcheinander entgegengesetzter philosophischer Standpunkte. Da ihr nur von den Empfindungen ausgeht, so korrigiert ihr mit dem
Wörtchen „Element“ die „Einseitigkeit“ eures Idealismus nicht, sondern verwirrt nur die Sache und versteckt euch feige vor eurer eigenen Theorie. In Worten beseitigt ihr den Gegensatz zwischen Physischem und Psychischem**, zwischen Materialismus (der die Natur, die Materie als das Ursprüngliche nimmt) und Idealismus (der den Geist, das Bewußtsein, die Empfindung als das Ursprüngliche nimmt) - in Wirklichkeit aber stellt ihr diesen Gegensatz sofort von neuem wieder her, und zwar heimlich, indem ihr von eurer Grundthese abrückt! Denn wenn die Elemente Empfindungen sind, dann dürft ihr keinen Augenblick die Existenz der „Elemente“ unabhängig von meinen Nerven, meinem Bewußtsein annehmen. Nehmt ihr aber solche von meinen Nerven, von meinen Empfindungen unabhängige physikalische Objekte an, die die Empfindung nur durch Einwirkung auf meine Netzhaut erzeugen, so verlaßt ihr schmählich euren „einseitigen“ Idealismus und bezieht den Standpunkt des „einseitigen“ Materialismus! Ist die Farbe eine Empfindung nur in Abhängigkeit von der Netzhaut (was die Naturwissenschaft euch anzuerkennen zwingt), so erzeugen also die Lichtstrahlen, indem sie auf die Netzhaut fallen, die Empfindung der Farbe. Es existiert also außerhalb von uns und unabhängig von uns und unserem Bewußtsein eine Bewegung der Materie, sagen wir Ätherwellen von bestimmter Länge und bestimmter Geschwindigkeit, die, auf die Netzhaut einwirkend, eine bestimmte Farbempfindung beim Menschen erzeugen. So gilt es denn auch in der Natur-
* Mach in „Analyse der Empfindungen“: „Man nennt diese Elemente gewöhnlich Empfindungen. Da aber in diesem Namen schon eine einseitige Theorie liegt, so ziehen wir vor, kurzweg von Elementen zu sprechen.“ (27/28 [17/18].)
** „Der Gegensatz zwischen Ich und Welt, Empfindung oder Erscheinung und Ding fällt dann weg, und es handelt sich lediglich um den Zusammenhang der Elemente.“ („Analyse der Empfindungen“, S. 21 [S. 11].)
wissenschaft. Die Naturwissenschaft erklärt die verschiedenen Empfindungen dieser oder jener Farbe durch die verschiedene Länge der Lichtwellen, die außerhalb der menschlichen Netzhaut, außerhalb des Menschen und unabhängig von ihm existieren. Eben das ist Materialismus: Die Materie wirkt auf unsere Sinnesorgane ein und erzeugt die Empfindung. Die Empfindung ist abhängig vom Gehirn, von den Nerven, der Netzhaut usw., d. h. von der in bestimmter Weise organisierten Materie. Die Existenz der Materie ist von der Empfindung unabhängig. Die Materie ist das Primäre. Die Empfindung, der Gedanke, das Bewußtsein ist das höchste Produkt der in besonderer Weise organisierten Materie. Dies ist die Auffassung des Materialismus überhaupt und die Auffassung von Marx und Engels im besonderen. Mach und Avenarius schmuggeln den Materialismus heimlich ein durch das Wörtchen „Element“, das angeblich ihre Theorie von der „Einseitigkeit“ des subjektiven Idealismus befreit, das angeblich die Annahme zuläßt, daß das Psychische von der Netzhaut, den Nerven usw. abhängt, daß das Physische vom menschlichen Organismus unabhängig ist. In Wirklichkeit aber ist das Kunststück mit dem Wörtchen „Element“ selbstverständlich nur ein armseliger Sophismus, denn jeder Materialist wird, wenn er Mach und Avenarius liest, sofort die Frage aufwerfen: Was sind die „Elemente“? Es wäre doch wirklich kindisch, zu denken, daß man durch die Erfindung eines neuen Schlagworts um die philosophischen Grundrichtungen herumkommen kann. Entweder ist das „Element“ eine Empfindung, wie es alle Empiriokritiker behaupten, sowohl Mach als auch Avenarius, Petzoldt* usw. - dann aber, meine Herren, ist eure Philosophie Idealismus, der die Blöße seines Solipsismus vergeblich durch eine mehr „objektive“ Terminologie zu verdecken sucht. Oder aber das „Element“ ist keine Empfindung - dann ist mit euerm „neuen“ Wort überhaupt kein Sinn verbunden, dann ist es einfach Wichtigtuerei mit einer Bagatelle.
„Als Elemente sind bezeichnet die Empfindungen im gewöhnlichen Sinne einfacher, nicht noch weiter zerlegbarer [Wahrnehmungen].“ Nehmen wir z. B. Petzoldt - das letzte Wort des Empiriokritizismus, wie ihn der erste und bedeutendste russische Empiriokritiker,
* Joseph Petzoldt, „Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung“, Bd. I, Leipzig 1900, S. 113:
W. Lessewitsch, charakterisiert.* Nachdem er die Elemente als Empfindungen definiert hat, erklärt er im zweiten Band des genannten Werkes: „Man muß sich hüten, in der Aussage: ‚Empfindungen sind die Elemente der Welt‘ das Wort ‚Empfindungen‘ als Bezeichnung für etwas bloß Subjektives und daher Luftiges, das gewöhnliche Weltbild [Verflüchtigendes] zu nehmen.“**
Wo einen der Schuh drückt, davon spricht man! Petzoldt spürt, daß die Welt „[sich verflüchtigt]“ bzw. zu einer Illusion wird, wenn man die Empfindungen für die Weltelemente hält. Und der gute Petzoldt glaubt, die Sache durch den Vorbehalt: man dürfe die Empfindung nicht als etwas bloß Subjektives nehmen, wiedergutzumachen! Aber ist das nicht ein lächerlicher Sophismus? Ändert es etwas an der Sache, ob wir die Empfindung als Empfindung „nehmen“ oder uns bemühen, die Bedeutung dieses Wortes zu erweitern? Wird denn dadurch die Tatsache aufgehoben, daß die Empfindungen des Menschen an normal funktionierende Nerven, Netzhaut, Gehirn usw. gebunden sind und daß die Außenwelt unabhängig von unserer Empfindung existiert? Wenn ihr euch nicht mit Ausflüchten herausreden wollt, wenn ihr euch ernstlich vor Subjektivismus und Solipsismus „hüten“ wollt, so müßt ihr euch vor allem vor den idealistischen Grundthesen eurer Philosophie hüten; ihr müßt die idealistische Linie eurer Philosophie (von den Empfindungen zur Außenwelt) durch die materialistische (von der Außenwelt zu den Empfindungen) ersetzen; ihr müßt die nichtssagende und wirre Verschnörkelung durch das Wort „Element“ beiseite werfen und einfach sagen: Die Farbe ist das Resultat der Einwirkung eines physikalischen Objekts auf die Netzhaut = die Empfindung ist das Resultat der Einwirkung der Materie auf unsere Sinnesorgane.
Nehmen wir noch Avenarius. Zur Frage der „Elemente“ liefert seine letzte (und für das Verständnis seiner Philosophie wohl wichtigste) Arbeit „Bemerkungen zum Begriff des Gegenstandes der Psychologie“***29 die wertvollsten Aufschlüsse. Der Verfasser gibt hier unter anderem eine
* W. Lessewitsch, „Was ist wissenschaftliche“ (lies: modische, professorale, elektrische) „Philosophie?“, St. Petersburg 1891, S. 229 und 247.
** Petzold, Bd. 2, Leipzig 1904, S. 329.
*** R. Avenarius, „Bemerkungen zum Begriff des Gegenstandes der Psychologie“ in „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie“29, Bd. XVIII (1894) und XIX (1895).
außerordentlich „anschauliche“ Tabelle (S. 410 des XVIII. Bandes), deren Hauptteil wir hier wiedergeben:
I. Sachen bzw. Sachhaftes ... II. Gedanken bzw. [Gedankenhaftes] |
„Elemente, Elementenkomplexe: Körperliche Dinge. Nichtkörperliche Ding-Erinnerungen und -Phantasien.“ |
Man vergleiche damit, was Mach nach all seinen Erklärungen über die „Elemente“ sagt („Analyse der Empfindungen“, S. 33 (S. 23]): „Nicht die Körper erzeugen Empfindungen, sondern Elementenkomplexe (Empfindungskomplexe) bilden die Körper.“ Hier habt ihr die „Entdeckung der Weltelemente“, die die Einseitigkeit des Idealismus und des Materialismus überwunden haben will! Zuerst versichert man uns, daß die „Elemente“ = etwas Neues, Physisches und Psychisches zugleich, seien, dann aber bringt man heimlich eine kleine Korrektur an: statt der grob materialistischen Unterscheidung zwischen Materie (Körpern, Dingen) und Psychischem (Empfindungen, Erinnerungen, Phantasien) verkündet man die Lehre des „neuesten Positivismus“ von den sachhaften und den gedankenhaften Elementen. Adler (Fritz) hat durch die „Entdeckung der Weltelemente“ nicht viel gewonnen!
Bogdanow schrieb, gegen Plechanow polemisierend, im Jahre 1906: „... Ich kann mich nicht als Machist in der Philosophie bekennen. In der allgemeinen philosophischen Konzeption habe ich von Mach nur das eine übernommen - die Vorstellung von der Neutralität der Erfahrungselemente bezüglich des ‚Physischen‘ und ‚Psychischen‘, von der alleinigen Abhängigkeit dieser Charakteristika von der Verknüpfung der Erfahrung.“ („Empiriomonismus“, Buch III, St. Petersburg 1906, S. XLI.) Das ist genauso, aus würde ein religiöser Mensch sagen: Ich kann mich nicht als Anhänger der Religion bekennen, denn ich habe von ihren Anhängern „nur das eine“, den Glauben an Gott, übernommen. „Nur das eine“, das Bogdanow von Mach übernommen hat, ist eben der Hauptfehler des Machismus, der Grundirrtum dieser ganzen Philosophie. Die Abweichungen Bogdanows vom Empiriokritizismus, denen er selbst sehr große Bedeutung beimißt, sind in Wirklichkeit ganz sekundärer Natur und gehen über den Rahmen spezieller, individueller Detailunterschiede zwischen den verschiedenen von Mach gelobten und Mach lobenden Empiriokritikern nicht hinaus (davon wird ausführlicher später die Rede sein). Wenn
daher Bogdanow sich darüber ärgerte, daß man ihn mit den Machisten in einen Topf wirft, so offenbarte er damit nur, daß er die fundamentalen Unterschiede zwischen dem Materialismus und dem, was Bogdanow und allen sonstigen Machisten gemeinsam ist, nicht begreift. Wichtig ist nicht, wie Bogdanow den Machismus weiterentwickelte oder wie er ihn verbesserte oder verschlechterte. Wichtig ist, daß er den materialistischen Standpunkt verlassen hat und dadurch unausweichlich in Konfusion und auf idealistische Irrwege geraten mußte.
Im Jahre 1899 vertrat Bogdanow, wie wir gesehen haben, den richtigen Standpunkt, als er schrieb: „Das Bild eines vor mir stehenden Menschen, das mir unmittelbar durch das Sehen gegeben ist, ist eine Empfindung.“* Bogdanow hat sich nicht die Mühe genommen, eine Kritik dieser seiner alten Ansicht zu geben. Er hat Mach blindlings, aufs Wort geglaubt und begann ihm nachzusprechen, daß die „Elemente“ der Erfahrung bezüglich des Physischen und Psychischen neutral seien. „Wie die neueste positive Philosophie festgestellt hat“, schrieb Bogdanow in Buch I des „Empiriomonismus“ (2. Aufl., S. 90), „sind die Elemente der psychischen Erfahrung mit den Elementen einer jeden Erfahrung überhaupt identisch, so wie sie mit den Elementen der physischen Erfahrung identisch sind.“ Oder im Jahre 1906 (Buch III, S. XX): „Was aber den ‚Idealismus‘ betrifft - kann man denn von Idealismus sprechen nur aus dem Grunde, weil die Elemente der ‚physischen Erfahrung‘ mit den Elementen des ‚Psychischen‘ oder den Elementarempfindungen als identisch angenommen werden, was doch einfach eine unbestreitbare Tatsache ist?“
Hier ist die wahre Quelle allen philosophischen Mißgeschicks Bogdanows, eine Quelle, die ihm und allen Machisten gemeinsam ist. Jawohl, man kann und muß von Idealismus sprechen, wenn die „Elemente der physischen Erfahrung“ (d. h. das Physische, die Außenwelt, die Materie) für identisch mit den Empfindungen erklärt werden, denn das ist nichts anderes als Berkeleyanismus. Hier ist weder von neuester Philosophie noch von positiver Philosophie noch von einer unbestreitbaren Tatsache auch nur eine Spur vorhanden, das ist einfach ein uralter idealistischer Sophismus. Und wenn man Bogdanow fragen wollte, wie er diese „unbestreitbare Tatsache“, daß das Physische mit den Empfindungen identisch sei,
* „Die Grundelemente der historischen Naturauffassung“, S. 216. Vgl. die oben angeführten Zitate.
beweisen könne, so würde man kein einziges Argument hören außer dem ewigen Refrain der Idealisten: ich empfinde nur eine Empfindungen; „die Aussage des Selbstbewußtseins“ (bei Avenarius in den „Prolegomena“, S. 56 der zweiten dtsch. Aufl., § 93); oder: „wir erfahren uns selbst empfindende Substanzen, in welcher Erfahrung die Empfindung allerdings sicherer gegeben ist als die Substanzialität“ (ebenda, S. 55, § 91) usw. usw. usf. Bogdanow hat (Mach Glauben schenkend) einen reaktionären philosophischen Kniff für eine „unbestreitbare Tatsache“ genommen, denn in Wirklichkeit wurde keine einzige Tatsache angeführt und kann keine Tatsache angeführt werden, die die Ansicht, daß die Empfindung ein Abbild der Außenwelt ist, widerlegen könnte - eine Ansicht, die Bogdanow im Jahre 1899 teilte und die von der Naturwissenschaft bis auf den heutigen Tag geteilt wird. Auf seinen philosophischen Irrfahrten wich der Physiker Mach ganz von der „modernen Naturwissenschaft“ ab - ein wichtiger Umstand, den Bogdanow nicht bemerkt hat und von dem wir später noch viel werden sprechen müssen.
Einer der Umstände, der Bogdanow zu seinem so raschen Sprung vom Materialismus der Naturforscher zu dem konfusen Idealismus Machs verleitet hat, ist (außer Ostwalds Einfluß) Avenarius’ Lehre von der abhängigen und unabhängigen Erfahrungsreihe. Bogdanow selbst stellt die Sache in Buch I des „Empiriomonismus“ folgendermaßen dar: „Insofern, als die Erfahrungsgegebenheiten in Abhängigkeit vom Zustand eines gegebenen Nervensystems auftreten, bilden sie die psychische Welt einer gegebenen Person; insofern, als die Erfahrungsgegebenheiten außerhalb dieser Abhängigkeit genommen werden, haben wir die physische Welt vor uns. Daher bezeichnet Avenarius diese zwei Erfahrungsgebiete als abhängige Reihe und unabhängige Reibe der Erfahrung.“ (S. 18.)
Das ist ja eben das Schlimme, daß diese Lehre von der unabhängigen „Reihe“ (unabhängig von der menschlichen Empfindung) ein Hineinschmuggeln des Materialismus bedeutet, was vom Standpunkt einer Philosophie, die besagt, daß die Körper Empfindungskomplexe, daß die Empfindungen mit den „Elementen“ des Physischen identisch“ seien, unberechtigt, willkürlich, eklektisch ist. Denn da ihr zugegeben habt, daß die Lichtquelle und die Lichtwellen unabhängig vom Menschen und vom menschlichen Bewußtsein existieren, daß die Farbe von der Einwirkung dieser Wellen auf die Netzhaut abhängig ist - so habt ihr euch faktisch
auf den materialistischen Standpunkt gestellt und habt alle „unbestreitbaren Tatsachen“ des Idealismus samt allen „Empfindungskomplexen“, allen von dem neuesten Positivismus entdeckten Elementen und ähnlichen Unsinn bis auf den Grund zerstört.
Das ist ja eben das Schlimme, daß Bogdanow (zusammen mit allen Machisten in Rußland) in die ursprünglichen idealistischen Anschauungen von Mach und Avenarius nicht eingedrungen ist, sich in ihren idealistischen Grundthesen nicht zurechtgefunden und daher das Unberechtigte und Eklektische ihres nachträglichen Versuchs, den Materialismus heimlich einzuschmuggeln, übersehen hat. Dabei wird der ursprüngliche Idealismus von Mach und Avenarius in der philosophischen Literatur ebenso allgemein zugegeben wie die Tatsache, daß der Empiriokritizismus später eine Wendung zum Materialismus hin zu vollziehen suchte. Der von uns oben zitierte französische Schriftsteller Cauwelaert sieht in den „Prolegomena“ von Avenarius einen „monistischen Idealismus in der „Kritik der reinen Erfahrung“ (1888-1890) „absoluten Realismus“ und im „Menschlichen Weltbegriff“ (1891) einen Versuch, diese Metamorphose zu „erklären“. Es sei bemerkt, daß hier der Ausdruck Realismus im Gegensatz zu Idealismus gebraucht wird. Was mich betrifft so gebrauche ich wie Engels in diesem Sinne nur das Wort Materialismus und halte diese Terminologie für die einzig richtige, besonders da das Wort „Realismus“ von den Positivisten und anderen Wirrköpfen, die zwischen Materialismus und Idealismus schwanken, abgegriffen worden ist. Es genügt hier festzustellen, daß Cauwelaert die unbestreitbare Tatsache im Auge hat, daß für Avenarius in den „Prolegomena“ (1876) die Empfindung das einzig Seiende ist, die „Substanz“ dagegen nach dem Prinzip der „Denkökonomie“! - eliminiert ist, wahrend in der „Kritik der reinen Erfahrung“ das Physische als unabhängige Reihe, dagegen das Psychische, also auch die Empfindungen, als abhängige Reihe angenommen wird.
Avenarius’ Schüler Rudolf Willy gibt gleichfalls zu, daß Avenarius, der 1876 „ganz“ Idealist war, später einen [Ausgleich]“ zwischen dieser Lehre und dem „naiven Realismus“ hergestellt hat (oben zit. Werk, ebenda) d. h. jenem spontan, unbewußt materialistischen Stand punkt, auf dem die ganze Menschheit steht, indem sie annimmt, daß die Außenwelt unabhängig von unserem Bewußtsein existiert.
Oskar Ewald, der Verfasser des Buches „Avenarius als Begründer des
Empiriokritizismus“, meint, diese Philosophie vereinige in sich einander widersprechende idealistische und „realistische“ (man sollte sagen: materialistische) Elemente (Element nicht im machistischen, sondern im menschlichen Sinne des Wortes gebraucht) Zum Beispiel: „Die absolute“ (Betrachtungsart) „würde den naiven Realismus verewigen, die relative den exklusiven Idealismus in Permanenz erklären.“* Unter absoluter Betrachtungsart versteht Avenarius das, was bei Mach dem Zusammenhang der „Elemente“ außerhalb unseres Leibes entspricht, unter relativer Betrachtungsart das, was bei Mach dem Zusammenhang der von unserem Leib abhängigen „Elemente“ entspricht.
Doch besonders interessant ist für uns in dieser Hinsicht das Urteil Wundts, der selbst, wie die meisten der oben erwähnten Autoren, einen verworrenen idealistischen Standpunkt einnimmt, der aber den Empiriokritizismus wohl am aufmerksamsten untersucht hat. P. Juschkewitsch sagt darüber folgendes: „Es ist interessant, daß Wundt den Empiriokritizismus für die wissenschaftlichste Form des letzten Typus des Materialismus hält“**, d. h. jenes Typus von Materialisten, die im Geistigen Funktionen körperliche Vorgänge sehen (und die - fügen wir von uns aus hinzu - nach Wundt zwischen Spinozismus30 und absolutem Materialismus stehen***31).
Allerdings, dieses Urteil W. Wundts ist sehr interessant. Am „Interessantesten“ ist hier aber das Verhalten des Herrn Juschkewitsch gegenüber den philosophischen Büchern und Aufsätzen, die er behandelt. Das ist ein typisches Beispiel für das Verhalten unserer Machisten. Gogols Petruschka las und fand es interessant, daß aus den Buchstaben immer Worte herauskommen. Herr Juschkewitsch hat Wundt gelesen und es „interessant“ gefunden, daß Wundt Avenarius des Materialismus zeiht. Hat Wundt unrecht, warum sollte man das nicht widerlegen? Wenn er recht hat, warum sollte man nicht die Gegenüberstellung von Materialismus und Empiriokritizismus erläutern? Herr Juschkewitsch findet es
* Oskar Ewald, „Richard Avenarius als Begründer des Empiriokritizismus“, Berlin 1905, S. 66.
** P. Juschkewitsch, „Materialismus und kritischer Realismus“, St. Petersburg 1908, S. 15.
*** W. Wundt, „Über naiven und kritischen Realismus“ in „Philosophischen Studien“31, Bd. XIII, 1898, S. 334.
„interessant“, was der Idealist Wundt sagt, aber sich mit der Sache auseinanderzusetzen, hält dieser Machist (wohl nach dem Prinzip der „Denkökonomie“) für ganz überflüssig ... Juschkewitsch hat also dem Leser mitgeteilt, daß Avenarius von Wundt des Materialismus geziehen wird; daß aber Wundt einige Seiten des Empiriokritizismus für Materialismus, andere für Idealismus, die Verkoppelung beider aber für künstlich hält, das verschweigt Juschkewitsch, wodurch er die Sache vollständig entstellt hat. Entweder versteht dieser Gentleman absolut nicht, was er liest, oder ihn leitete der Wunsch, sich auf diese listige Art von Wundt loben zu lassen: Seht ihr, auch uns halten die offiziellen Professoren nicht für irgendwelche Wirrköpfe, sondern für Materialisten!
Die erwähnte Abhandlung Wundts ist ein umfangreiches Buch (von mehr als 300 Seiten), das einer sehr eingehenden Analyse zunächst die Immanenzschule, sodann die Empiriokritiker unterzieht. Warum hat Wundt diese beiden Schulen miteinander verbunden? Nun, weil er sie für nahe verwandt hält, eine Ansicht, die auch von Mach, Avenarius, Petzoldt und den Immanenzphilosophen geteilt wird und die, wie wir sehen werden, unbedingt richtig ist. Wundt zeigt im ersten Teil der erwähnten Abhandlung, daß die Immanenzphilosophen Idealisten, Subjektivisten, Anhänger des Fideismus sind. Das ist wiederum, wie wir sehen werden, eine vollkommen richtige Ansicht, die Wundt nur mit einem überflüssigen Ballast von Professorengelehrsamkeit, mit überflüssigen Finessen und kleinen Vorbehalten versieht, die sich daraus erklären lassen, daß Wundt selbst Idealist und Fideist ist. Er wirft den Immanenzphilosophen nicht etwa vor, daß sie Idealisten und Anhänger des Fideismus sind, sondern daß sie diese hohen Prinzipien seiner Meinung nach nicht richtig ableiten. Den zweiten und dritten Teil der Abhandlung widmet Wundt dann dem Empiriokritizismus. Dabei betont er ausdrücklich, daß überaus wichtige theoretische Thesen des Empiriokritizismus (die Auffassung von der „Erfahrung“ und die „Prinzipialkoordination“, über die wir noch sprechen werden) beim Empiriokritizismus und bei den Immanenzphilosophen identisch sind (die empiriokritische in Übereinstimmung mit der immanenten Philosophie annimmt, S. 382 der Wundtschen Abhandlung). Andere theoretische Thesen habe Avenarius dem Materialismus entlehnt, und im ganzen sei der Empiriokritizismus eine „[bunte Mischung]“ (S. 57 der
genannten Abhandlung), deren „verschiedene Bestandteile [an sich einander völlig heterogen sind]“ (S. 56). Zu den materialistischen Brocken des Avenarius-Machschen Mischmaschs zählt Wundt hauptsächlich die Avenariussche Lehre von der „unabhängigen Vitalreibe“. Wenn ihr von dem „System C“ ausgeht (so bezeichnet Avenarius - ein großer Freund des gelehrten Spiels mit neuen Termini - das menschliche Gehirn bzw. das Nervensystem überhaupt), wenn das Psychische für euch eine Funktion des Gehirns ist, so ist dieses „System C“ eine „metaphysische Substanz“, sagt Wundt (S. 64 der genannten Abhandlung), und eure Lehre ist Materialismus. Es sei bemerkt, daß viele Idealisten und sämtliche Agnostiker (darunter auch die Kantianer und die Humeisten) die Materialisten als Metaphysiker bezeichnen, weil es ihnen scheint, die Anerkennung der Existenz einer vom menschlichen Bewußtsein unabhängigen Außenwelt sei Hinausgehen über die Grenzen der Erfahrung. Wir werden auf diese Terminologie und darauf, daß sie vom marxistischen Standpunkt aus völlig unrichtig ist, an geeigneter Stelle noch zu sprechen kommen. Hier ist es uns wichtig festzustellen, daß nach allgemeiner Übereinstimmung der Philosophen verschiedener Parteien, d. h. verschiedener philosophischer Richtungen, die Annahme der „unabhängigen“ Reihe bei Avenarius (ebenso wie bei Mach, der denselben Gedanken mit anderen Worten ausdrückt) dem Materialismus entlehnt ist. Wenn man davon ausgeht, daß alles Existierende Empfindung ist oder daß die Körper Empfindungskomplexe sind, so kann man, ohne sämtliche eigenen Grundthesen, ohne die ganze „eigene“ Philosophie umzuwerfen, nicht dazu kommen, daß das Physische unabhängig von unserem Bewußtsein existiert und daß die Empfindung eine Funktion der in bestimmter Weise organisierten Materie ist. Mach und Avenarius aber vereinigen in ihrer Philosophie die idealistischen Grundthesen und einzelne materialistische Schlußfolgerungen gerade weil ihre Theorie ein Musterbeispiel jener „eklektischen Bettelsuppe“32 ist, von der Engels mit gebührender Verachtung sprach*.
* Vorbemerkung zu „Ludwig Feuerbach“, datiert vom Februar 1888. Diese Worte von Engels beziehen sich auf die deutsche Professorenphilosophie überhaupt. Die Machisten, die Marxisten sein möchten, aber nicht imstande sind, sich in die Bedeutung und den Inhalt dieses Gedankens von Engels zu vertiefen, verstecken sich mitunter hinter der jämmerlichen Ausrede, daß „Engels Mach
In dem letzten philosophischen Werk Machs, „Erkenntnis und Irrtum“, 2. Aufl., 1906, springt dieser Eklektizismus besonders ins Auge. Wir haben schon gesehen, daß Mach dort erklärt: „es unterliegt keiner Schwierigkeit, jedes physische Erlebnis aus Empfindungen, also psychischen Elementen aufzubauen“, und in demselben Buch lesen wir: „Abhängigkeiten außerhalb der Grenze U“ (= [Umgrenzung], d, h. „die räumliche Umgrenzung unseres Leibes“, Seite 8) ist „Physik im weitesten Sinne“ (S. 323, § 4). „Um diese Abhängigkeiten [rein zu erhalten], muß der Einfluß des Beobachters, der innerhalb U liegenden Elemente, möglichst ausgeschlossen werden.“ (Ebenda.) So, so. Zuerst prahlte die Meise, sie werde das Meer in Brand stecken, d. h. die physischen Elemente aus psychischen aufbauen, dann stellte es sich heraus, daß die physischen Elemente sich außerhalb der Grenze der psychischen Elemente befinden, die „innerhalb unseres Leibes liegen“. Eine schöne Philosophie!
Ein weiteres Beispiel: „Ein vollkommenes“ (ideales) „Gas, eine vollkommene Flüssigkeit, eine vollkommen elastischer Körper existiert nicht; der Physiker weiß, daß seine Fiktionen den Tatsachen nur annähernd, willkürlich vereinfachend entsprechen; er kennt die Abweichung, die nicht beseitigt werden kann.“ (S. 418, § 30.)
Von was für einer [Abweichung] ist hier die Rede? Was weicht wovon ab? Die Gedanken (die physikalische Theorie) von den Tatsachen. Was sind aber Gedanken, Ideen? Ideen sind „Spuren von Empfindungen“ (S. 9). Und was sind Tatsachen? Tatsachen sind „Empfindungskomplexe“; die Abweichung der Spuren von Empfindungen von den Empfindungskomplexen kann also nicht beseitigt werden.
Was bedeutet das? Es bedeutet, daß Mach seine eigene Theorie vergißt und daß er, sobald er über die verschiedenen Probleme der Physik zu sprechen anfängt, ganz einfach urteilt, ohne idealistische Spitzfindigkeiten, d. h materialistisch. Alle „Empfindungskomplexe“ und diese ganze berkeleyanische Weisheit verschwinden. Die Theorie der Physiker erweist
noch nicht gekannt“ habe (Fritz Adler im „Historischen Materialismus“, S. 370). Worauf gründet sich diese Meinung? Daß Engels weder Mach noch Avenarius zitiert? Andere Gründe gibt es nicht, dieser Grund aber ist unzureichend, da Engels keinen der Eklektiker mit Namen nennt. Daß er aber Avenarius nicht gekannt haben soll, der seit 1876 eine Vierteljahrsschrift für „wissenschaftliche“ Philosophie herausgab, ist kaum anzunehmen.
sich als Widerspiegelung der Körper, Flüssigkeiten und Gase, die außerhalb und unabhängig von uns existieren, wobei diese Widerspiegelung natürlich eine annähernde ist; es ist aber unrichtig, diese Annäherung oder Vereinfachung als „willkürlich“ zu bezeichnen. In Wirklichkeit wird hier von Mach die Empfindung als das betrachtet, wofür die ganze von Berkeleys und Humes Schülern nicht „gereinigte“ Naturwissenschaft sie hält, d. h. als Abbild der Außenwelt. Machs eigene Theorie ist subjektiver Idealismus; braucht er aber ein Moment der Objektivität, so schiebt er ohne Bedenken Annahmen der entgegengesetzten, d. h. der materialistischen Erkenntnistheorie in seine Betrachtungen ein. Eduard Hartmann, ein konsequenter Idealist und konsequenter Reaktionär in der Philosophie, der mit dem Kampf der Machisten gegen den Materialismus sympathisiert, kommt der Wahrheit sehr nahe, wenn er sagt, daß der philosophische Standpunkt Machs auf der „[Nichtunterscheidung] des naiven Realismus und a bsoluten Illusionismus“ beruhe.* Das ist wahr. Die Lehre, daß die Körper Empfindungskomplexe seien usf., ist absoluter Illusionismus, d. h. Solipsismus, denn von diesem Standpunkt aus gesehen ist die ganze Welt nichts anderes als meine Illusion. Die von uns angeführte Betrachtung Machs hingegen ist ebenso wie eine ganze Reihe anderer vereinzelter Betrachtungen von ihm sogenannter „naiver Realismus“, d. h. die unbewußt, spontan von den Naturforschern übernommene materialistische Erkenntnistheorie.
Avenarius und die Professoren, die in seine Fußtapfen treten, suchen diese Vermengung durch die Theorie der „Prinzipialkoordination“ zu verschleiern. Wir werden gleich zur Analyse dieser Theorie übergehen, vorerst aber wollen wir die Behandlung der gegen Avenarius gerichteten Anschuldigung des Materialismus abschließen. Herr Juschkewitsch, dem das von ihm nicht verstandene Urteil Wundts interessant erschien, interessierte sich selbst nicht, zu erfahren, oder geruhte nicht, es dem Leser mitzuteilen, wie sich die nächsten Schüler und Nachfolger von Avenarius zu dieser Anschuldigung verhielten. Dies ist indessen zur Aufklärung der Angelegenheit notwendig, wenn uns die Frage nach dem Verhältnis der Marxschen Philosophie, d. h. des Materialismus, zu der Philosophie des Empiriokritizismus interessiert. Und dann, wenn der Machismus ein
* Eduard von Hartmann, „Die Weltanschauung der modernen Physik“, Leipzig 1902, S. 219.
Durcheinander, ein Gemisch von Materialismus und Idealismus ist, so ist es wichtig zu wissen, wohin diese Strömung zog - wenn man so sagen darf -‚ nachdem die offiziellen Idealisten begonnen hatten, sie wegen der Zugeständnisse an den Materialismus von sich zu weisen.
Übrigens erwiderten Wundt zwei der reinsten und orthodoxesten Schüler von Avenarius, J. Petzoldt und Fr. Carstanjen. Petzoldt wies mit stolzer Entrüstung die für einen deutschen Professor schmachvolle Anschuldigung des Materialismus zurück und berief sich ... nun, worauf glauben Sie wohl? ... auf die „Prolegomena“ von Avenarius, wo, wie er sagt, die Nichtigkeit des Substanzbegriffs dargelegt ist! Eine bequeme Theorie, wenn man sowohl rein idealistische Werke als auch willkürlich herausgegriffene materialistische Thesen zu ihr in Beziehung bringen kann! Avenarius’ „Kritik der reinen Erahrung“, schrieb Petzoldt, widerspreche allerdings einer solchen Lehre - d. h. dem Materialismus - nicht, aber ebensowenig der ihr gerade entgegengesetzten spiritualistischen.* Eine ausgezeichnete Verteidigung! Eben das bezeichnete Engels als eklektische Bettelsuppe. Bogdanow, der sich nicht als Machist bekennen und der (in der Philosophie) als Marxist gelten will, folgt Petzoldt nach. Er meint, daß der „Empiriokritizismus ... weder mit Materialismus noch mit Spiritualismus noch mit irgendeiner Metaphysik überhaupt etwas zu tun habe“**‚ daß „die Wahrheit... nicht in der ‚goldenen Mitte‘ zwischen den kollidierenden Richtungen“ (Materialismus und Spiritualismus) „liegt, sondern außerhalb beider“***. In Wirklichkeit ist das, was Bogdanow als Wahrheit erschien, Konfusion, Schwanken zwischen. Materialismus und Idealismus.
Carstanjen schrieb in seiner Erwiderung an Wundt, daß er „die [Unterschiebung] eines materialistischen Momentes, welches der Kritik der reinen Erfahrung völlig fern liegt“, absolut zurückweise. „Der Empiriokritizismus ist Skeptizismus χατ'ἑζοχήν (vorzugsweise) „in bezug auf die Begriffsinhalte.“† Ein Körnchen Wahrheit ist in dieser starken Betonung der Neu-
* J. Petzoldt, „Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung“, Bd. 1, S. 351, 352.
** „Empiriomonismus“, Buch 1, 2. Aufl., S. 21.
*** Ebenda, S. 93.
† Fr. Carstanjen, „Der Empiriokritizismus, zugleich eine Erwiderung auf W. Wundts Aufsätze“, „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie“, Jahrg. 22 (1898), S. 73 und 213.
tralität des Machismus enthalten: Die von Mach und Avenarius vorgenommene Korrektur an ihrem ursprünglichen Idealismus reduziert sich ganz auf halbschlächtige Zugeständnisse an den Materialismus. An Stelle von Berkeleys konsequentem Standpunkt: Die Außenwelt ist meine Empfindung, kommt zuweilen der Standpunkt Humes heraus: Ich schalte die Frage aus, ob hinter meinen Empfindungen etwas ist. Dieser Standpunkt des Agnostizismus hat aber unvermeidlich ein Schwanken zwischen Materialismus und Idealismus zur Folge.
Datum der letzten Änderung : Jena, den: 15.08.2013