5. Absolute und relative Wahrheit, oder über den von A. Bogdanow bei Engels entdeckten Eklektizismus | Inhalt | 1. Was ist Materie? Was ist Erfahrung?

6. Das Kriterium der Praxis in der Erkenntnistheorie

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Wir haben gesehen, daß Marx 1845, Engels 1888 und 1892 das Kriterium der Praxis in die Grundlage der materialistischen Erkenntnistheorie einführen.58 Von der Praxis isoliert die Frage stellen, „ob dem menschlichen Denken gegenständliche" (d.h. objektive) „Wahrheit zukomme", ist Scholastik, sagt Marx in der zweiten These über Feuerbach. Die schlagendste Widerlegung des Kantschen und Humeschen Agnostizismus wie aller ändern philosophischen [Schrullen] ist die Praxis, wiederholt Engels. „Die Erfolge unsrer Handlungen liefern den Beweis für die [Übereinstimmung] unsrer Wahrnehmungen mit der gegenständlichen" (objek-

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tiven) „Natur der wahrgenommenen Dinge", erwidert Engels den Agnostikern.59

Man vergleiche damit die Betrachtung Machs über das Kriterium der Praxis: „Man pflegt in der populären Denk- und Redeweise der Wirklichkeit den Schein gegenüberzustellen. Einen Bleistift, den wir in der Luft vor uns halten, sehen wir gerade; tauchen wir denselben schief ins Wasser, so sehen wir ihn geknickt. Man sagt nun in letzterem Falle: ,Der Bleistift scheint geknickt, ist aber in Wirklichkeit gerade.' Was berechtigt uns aber, eine Tatsache der ändern gegenüber für Wirklichkeit zu erklären und die andere zum Schein herabzudrücken? ... Unsere Erwartung wird allerdings getäuscht, wenn wir den natürlichen Fehler begehen, in ungewöhnlichen Fällen dennoch das Gewöhnliche zu erwarten. Die Tatsachen sind daran unschuldig. Es hat nur einen praktischen, aber keinen wissenschaftlichen Sinn, in diesen Fällen von Schein zu sprechen. Ebenso hat die oft gestellte Frage, ob die Welt wirklich ist oder ob wir sie bloß träumen, gar keinen wissenschaftlichen Sinn. Auch der wüsteste Traum ist eine Tatsache, so gut als jede andere." („Analyse der Empfindungen", S. 18/19 [S. 8/9].)

Es ist wahr: nicht nur ein wüster Traum, sondern auch eine wüste Philosophie ist mitunter eine Tatsache. Daran ist kein Zweifel möglich, nachdem man die Philosophie Ernst Machs kennengelernt hat. Wie der allerletzte Sophist vermengt er die wissenschaftlich-historische und die psychologische Untersuchung der menschlichen Irrtümer, aller möglichen „wüsten Träume" der Menschheit, wie des Glaubens an Waldteufel, Hausgeister u. dgl. m., mit der erkenntnistheoretischen Unterscheidung des Wahren und des „Wüsten". Das ist dasselbe, wie wenn ein Ökonom erklärte, daß die Theorie von Senior, nach der der ganze Gewinn dem Kapitalisten aus der „letzten Arbeitsstunde" des Arbeiters zufließt, ebenso eine Tatsache sei wie die Theorie von Marx und daß vom wissenschaftlichen Standpunkt aus die Frage, welche Theorie die objektive Wahrheit und welche die Vorurteile der Bourgeoisie und die Käuflichkeit ihrer Professoren ausdrücke, gar keinen Sinn habe. Der Lohgerber J. Dietzgen sah in der wissenschaftlichen, d. h. materialistischen Erkenntnistheorie eine „Universalwaffe wider den religiösen Glauben" („Kleinere philosophische Schriften", S. 55), für den ordentlichen Professor Ernst Mach aber hat die Unterscheidung zwischen der materialistischen und der subjektiv-idealisti-

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sehen Erkenntnistheorie „keinen wissenschaftlichen Sinn"! Die Wissenschaft sei im Kampfe des Materialismus gegen Idealismus und Religion unparteiisch - das ist eine Lieblingsidee nicht nur Machs, sondern aller modernen bürgerlichen Professoren, dieser, um den treffenden Ausdruck desselben J. Dietzgen zu gebrauchen, „diplomierten Lakaien, die mit einem geschraubten Idealismus Volksbetörung treiben", (ebenda, S. 53).

Es ist eben ein solcher geschraubter Professoren-Idealismus, wenn das Kriterium der Praxis, die für jedermann den Schein von der Wirklichkeit sondert, von E. Mach hinter die Grenzen der Wissenschaft, hinter die Grenzen der Erkenntnistheorie verlegt wird. Die menschliche Praxis beweist die Richtigkeit der materialistischen Erkenntnistheorie, erklärten Marx und Engels, und sie bezeichneten die Versuche, die Grundfrage der Erkenntnistheorie isoliert von der Praxis zu lösen, als „Scholastik" und „philosophische Schrullen". Für Mach hingegen sind Praxis und Erkenntnistheorie zwei ganz verschiedene Dinge: man könne sie nebeneinanderstellen, ohne daß die letztere durch die erste bedingt sei. In seinem letzten Werk „Erkenntnis und Irrtum" (S. 115 der zweiten deutschen Auflage) sagt Mach: „Eine Erkenntnis ist stets ein biologisch [förderndes] psychisches Erlebnis." „Nur der Erfolg vermag beide" (Erkenntnis und Irrtum) „zu scheiden." (116.) „Der Begriff ist eine physikalische Arbeitshypothese" (143.) Unsere russischen Machisten, die Marxisten sein möchten, nehmen solche Phrasen von Mach mit erstaunlicher Naivität hin als Beweis dafür, daß er sich dem Marxismus nähere. Aber Mach nähert sich hier dem Marxismus ebenso, wie sich Bismarck der Arbeiterbewegung oder der Bischof Jewlogi dem Demokratismus genähert hat. Bei Mach stehen solche Sätze neben seiner idealistischen Erkenntnistheorie, aber sie bedeuten keine Entscheidung für diese oder jene bestimmte Linie in der Erkenntnistheorie. Die Erkenntnis kann nur dann biologisch fördernd, fördernd für die menschliche Praxis, für die Erhaltung des Lebens, für die Erhaltung der Gattung sein, wenn sie eine objektive, vom Menschen unabhängige Wahrheit widerspiegelt. Für den Materialisten beweist der „Erfolg" der menschlichen Praxis die Übereinstimmung unserer Vorstellungen mit der objektiven Natur der von uns wahrgenommenen Dinge. Für den Solipsisten ist „Erfolg" all das, was ich m der Praxis, die man getrennt von der Erkenntnistheorie betrachten kann, brauche. Schließen wir das Kriterium der Praxis in die Grundlage der Erkenntnistheorie ein, so

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kommen wir unvermeidlich zum Materialismus, sagt der Marxist. Mag die Praxis meinetwegen materialistisch sein, die Theorie jedoch ist eine Sache für sich, meint Mach.

„Praktisch", schreibt er in der „Analyse der Empfindungen", „können wir nun handelnd die Ichvorstellung so wenig entbehren als die Körpervorstellung, nach einem Ding greifend. Physiologisch bleiben wir Egoisten und Materialisten, so wie wir die Sonne immer wieder aufgehn sehen. Theoretisch muß aber diese Auffassung nicht festgehalten werden." (284/285 [291].)

Mit Egoismus hat das überhaupt nichts zu tun, denn er ist gar keine erkenntnistheoretische Kategorie. Ebensowenig auch mit der scheinbaren Bewegung der Sonne um die Erde, denn die uns in der Erkenntnistheorie als Kriterium dienende Praxis muß auch die Praxis der astronomischen Beobachtungen, Entdeckungen usw. umfassen. Es bleibt das wertvolle Eingeständnis Machs, daß die Menschen sich in ihrer Praxis gänzlich und ausschließlich von der materialistischen Erkenntnistheorie leiten lassen, der Versuch aber, sie „theoretisch" zu umgehen, drückt nur die gelahrt-scholastischen und geschraubt-idealistischen Bestrebungen Machs aus.

Wie wenig neu diese Bemühungen sind, die Praxis als nicht zur Erkenntnistheorie gehörend auszusondern, um dem Agnostizismus und dem Idealismus Platz zu machen, zeigt das folgende Beispiel aus der Geschichte der deutschen klassischen Philosophie. Auf dem Wege von Kant zu Fichte steht hier G. E. Schulze (der in der Geschichte der Philosophie sogenannte Aenesidem-Schulze). Er verteidigt offen die skeptische Linie in der Philosophie und bezeichnet sich als Anhänger von Hume (und unter den Alten von Pyrrhon und Sextus). Er leugnet auf das entschiedenste jedes Ding an sich und die Möglichkeit der objektiven Erkenntnis und verlangt entschieden, daß man über die „Erfahrung", über die Empfindungen nicht hinausgehe, wobei er auch den Einwand aus dem anderen Lager voraussieht: „Da der Skeptiker, wenn er an den Angelegenheiten des Lebens Anteil nimmt, sowohl die Wirklichkeit objektiver Gegenstände als gewiß voraussetzt und denselben gemäß sich beträgt, als auch ein Kriterium der Wahrheit zugibt: so ist sein eigenes Betragen die beste und deutlichste Widerlegung der Vernunftmäßigkeit seiner Zweifelsucht."* Entrüstet


* G. E. Schulze, „Aenesidemus oder über die Fundamente der von dem Herrn Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementarphilosophie", 1792, S. 253.

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antwortet Schulze: „Durch dieselben" (Vorwürfe) „kann man freilich bei dem Pöbel (S. 254) sehr viel ausrichten." Denn „meine Zweifel müssen innerhalb der Grenzen der Philosophie bleiben" und berühren nicht die „Angelegenheiten des täglichen Lebens" (255).

Ebenso hofft auch der subjektive Idealist Fichte, in den Grenzen der idealistischen Philosophie Platz zu finden für jenen „Realismus, der sich uns allen und selbst dem entschiedensten Idealisten [aufdringt], wenn es zum Handeln kömmt, d. h. die Annahme, daß Gegenstände ganz unabhängig von uns außer uns existieren" (Werke, I, 455).

Der neueste Positivismus Machs ist über Schulze und Fichte nicht weit hinausgekommen! Als Kuriosum erwähnen wir, daß für Basarow auch in dieser Frage niemand außer Plechanow existiert: es gibt eben kein stärkeres Tier als die Katze. Basarow höhnt über die „salto-vitale Philosophie Plechanows" („Beiträge", S. 69), bei dem sich tatsächlich die abgeschmackte Phrase findet, der „Glaube" an die Existenz der Außenwelt sei „der unvermeidliche Salto vitale" (Lebenssprung) „der Philosophie" („Anmerkung zu L. Feuerbach", S. 111). Der Ausdruck „Glaube", den Plechanow, wenn auch in Anführungszeichen, Hume nachspricht, offenbart einen Wirrwarr in seiner Terminologie, das läßt sich nicht leugnen. Aber wozu da Plechanow?? Warum suchte sich Basarow keinen anderen Materialisten aus, etwa Feuerbach? Nur, weil er ihn nicht kennt? Unwissenheit ist aber kein Argument. Auch Feuerbach macht, wie Marx und Engels, in den Grundfragen der Erkenntnistheorie einen vom Standpunkt Schulzes, Fichtes und Machs unerlaubten „Sprung" in die Praxis. Feuerbach kritisiert den Idealismus und stellt dessen Wesen dabei mit einem prägnanten Zitat aus Fichte dar, das in ausgezeichneter Weise den Machismus erledigt: „Du setzest", schrieb Fichte, „die Dinge als wirklich, als außer dir vorhanden, nur weil du siehst, hörst, fühlst. Aber Sehen, Fühlen, Hören sind nur Empfindungen ... Du empfindest also nicht die Gegenstände, sondern nur die Empfindungen." (Feuerbach, Werke, X. Band, S. 185.) Und Feuerbach erwidert, der Mensch sei kein abstraktes Ich, sondern entweder ein Mann oder ein Weib, und man sei vollkommen berechtigt, die Frage, ob die Welt eine Empfindung ist, auf gleichen Fuß zu stellen mit der Frage, ob der andere Mensch eine Empfindung von mir ist oder ob unsere Verhältnisse in der Praxis das Gegenteil beweisen. „Das eben ist der Grundmangel des Idealismus, daß er die Frage von der Objek-

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tivität oder Subjektivität, von der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Welt nur vom theoretischen Standpunkte aus sich stellt und löst." (189, ebenda.) Feuerbach legt die Ergebnisse der gesamten menschlichen Praxis der Erkenntnistheorie zugrunde. Allerdings, sagt er, erkennen auch die Idealisten in der Praxis die Realität sowohl unseres Ich als auch des fremden Du an. Für die Idealisten ist das „ein nur für das Leben, aber nicht für die Spekulation giltiger Standpunkt. Allein eine Spekulation, die mit dem Leben in Widerspruch steht, die den Standpunkt des Todes, der vom Leibe geschiedenen Seele zum Standpunkt der Wahrheit macht, ist selbst eine tote und falsche Spekulation." (192.) Bevor wir empfinden, atmen wir; ohne Luft, ohne Essen und Trinken können wir nicht existieren.

„Also ums Essen und Trinken handelt es sich auch bei der Frage von der Idealität oder Realität der Welt? ruft entrüstet der Idealist aus. Welche Gemeinheit! Welcher Verstoß gegen die gute Sitte, auf dem Katheder der Philosophie ebenso wie auf der Kanzel der Theologie über den Materialismus in wissenschaftlichem Sinne aus allen Leibeskräften zu schimpfen, dafür aber an Table d'hôte dem Materialismus im gemeinsten Sinne zu huldigen!" (196.) Und Feuerbach ruft aus, die subjektive Empfindung der objektiven Welt gleichsetzen „heißt die Pollution mit der Zeugung identifizieren" (198).

Diese Bemerkung ist nicht besonders höflich, sie trifft aber auf jene Philosophen, die lehren, daß die Sinnesvorstellung eben die außer uns existierende Wirklichkeit sei, haargenau zu.

Der Gesichtspunkt des Lebens, der Praxis muß der erste und grundlegende Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie sein. Und er führt unvermeidlich zum Materialismus, da er von vornherein die zahllosen Schrullen der Professorenscholastik beiseite wirft. Freilich darf dabei nicht vergessen werden, daß das Kriterium der Praxis schon dem Wesen der Sache nach niemals irgendeine menschliche Vorstellung vollständig bestätigen oder widerlegen kann. Auch dieses Kriterium ist „unbestimmt" genug, um die Verwandlung der menschlichen Kenntnisse in ein „Absolutum" zu verhindern, zugleich aber auch bestimmt genug, um gegen alle Spielarten des Idealismus und Agnostizismus einen unerbittlichen Kampf zu führen. Wenn das, was von unserer Praxis bestätigt wird, die einzige, letzte, objektive Wahrheit ist, so ergibt sich daraus, daß man als einzigen Weg zu dieser Wahrheit den Weg der auf dem materialistischen Standpunkt

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stehenden Wissenschaft anerkennen muß. Bogdanow zum Beispiel läßt Marx' Theorie des Geldumlaufs als objektive Wahrheit nur „für unsere Zeit" gelten und nennt es „Dogmatismus", wenn man dieser Theorie eine „übergeschichtlich-objektive" Wahrheit zuerkennt („Empiriomonismus", Buch III, S. VII). Das ist wieder eine Konfusion. Daß diese Theorie der Praxis entspricht, kann durch keine künftigen Umstände geändert werden, und zwar aus demselben einfachen Grunde, aus welchem die Wahrheit, daß Napoleon am 5. Mai 1821 gestorben ist, ewig ist. Da aber das Kriterium der Praxis - d. h. der Verlauf der Entwicklung aller kapitalistischen Länder in den letzten Jahrzehnten - nur die objektive Wahrheit der ganzen sozialökonomischen Theorie von Marx überhaupt, und nicht die irgendeines Teils, einer Formulierung u. dgl. beweist, so ist klar, daß es ein unverzeihliches Zugeständnis an die bürgerliche Ökonomie ist, wenn hier von „Dogmatismus" der Marxisten gesprochen wird. Die einzige Schlußfolgerung aus der von den Marxisten vertretenen Auffassung, daß die Theorie von Marx eine objektive Wahrheit ist, besteht im folgenden: Auf dem "Wege der Marxschen Theorie fortschreitend, werden wir uns der objektiven Wahrheit mehr und mehr nähern (ohne sie jemals zu erschöpfen); auf jedem anderen "Wege aber können wir zu nichts anderem gelangen als zu Konfusion und Unwahrheit.



Datum der letzten Änderung : Jena, den: 16.04.2013