Mittelwertsatz der Differentialrechnung

Der Mittelwertsatz ist ein zentraler Satz der Differentialrechnung, eines Teilgebiets der Analysis (Mathematik).

Veranschaulicht lässt sich der Mittelwertsatz geometrisch so deuten, dass es unter den unten genannten Voraussetzungen zwischen zwei Punkten eines Funktionsgraphen mindestens einen Kurvenpunkt gibt, für den die Tangente parallel zurSekante durch die beiden gegebenen Punkte ist.

Die Aussage des Satzes lässt sich sowohl auf den Quotienten zweier Funktionen übertragen als auch auf Funktionen mehrerer Variablen anwenden.

Aussage des Mittelwertsatzes

Geometrische Darstellung des Mittelwertsatzes: Sekante und Tangente an der Stelle x0 sind parallel.

Es sei f: [a,b] \to \mathbb{R} eine Funktion, die auf dem abgeschlossenen Intervall [a,b] (mit a<b) definiert und stetig ist. Außerdem sei die Funktion f im offenen Intervall (a,b) differenzierbar. Unter diesen Voraussetzungen gibt es mindestens ein x_{0}\in (a,b), so dass

f'\left(x_0\right)=\frac{f\left(b\right)-f\left(a\right)}{b-a}

gilt.

Geometrisch gedeutet bedeutet dies, dass die Sekantensteigung an mindestens einer Zwischenstelle als Steigung der Tangente an den Graphen der Funktion auftritt.

Beweis im eindimensionalen Fall

Es sei eine Hilfsfunktion h:[a,b]\to {\mathbb  {R}} definiert, mit

h(x)=f(x)-{\frac  {f(b)-f(a)}{b-a}}(x-a)

h ist stetig in [a,b] und in (a,b) differenzierbar. Es gilt h(b)=f(a)=h(a).

Nach dem Satz von Rolle existiert daher ein x_{0}\in (a,b) mit h'\left(x_{0}\right)=0. Da

h'(x_{0})=f'(x_{0})-{\frac  {f(b)-f(a)}{b-a}}

folgt die Behauptung.

Beispiel einer Anwendung des Mittelwertsatzes

Als typische Anwendung des Mittelwertsatzes kann gezeigt werden, dass

\left|\sin b-\sin a\right|\leq \left|b-a\right|

für alle a,b \in \R gilt: Ohne Einschränkung können wir a<b annehmen. Da die Sinusfunktion im Intervall [a,b] differenzierbar ist, existiert nach dem Mittelwertsatz ein x_{0}\in (a,b), so dass

{\frac  {\sin b-\sin a}{b-a}}=\sin 'x_{0}=\cos x_{0}

gilt. Wegen \left|\cos x\right|\leq 1 für alle x\in \mathbb{R} , erhält man

\left|\sin b-\sin a\right|=\left|\cos x_{0}\right|\left|b-a\right|\leq \left|b-a\right|\,.

Allgemein kann so nachgewiesen werden, dass stetig differenzierbare Funktionen lokal Lipschitz-stetig sind.

Erweiterter Mittelwertsatz der Differentialrechnung

Der Mittelwertsatz lässt sich in folgender Weise verallgemeinern:

Es seien f: [a,b] \to \mathbb{R} und g:[a,b]\to {\mathbb  {R}} zwei Funktionen, die auf dem abgeschlossenen Intervall [a,b] (mit a<b) definiert und stetig und auf dem offenen Intervall (a,b) differenzierbar sind. Unter diesen Voraussetzungen existiert mindestens ein x_{0}\in (a,b), so dass

f'(x_{0})\,(g(b)-g(a))=g'(x_{0})\,(f(b)-f(a))

gilt.

Wird zusätzlich g'(x)\neq 0 auf dem Intervall [a,b] vorausgesetzt, so ist insbesondere g'(x_{0})\neq 0 sowie g(a)\neq g(b) und man kann den erweiterten Mittelwertsatz in der üblichen Bruchform schreiben,

{\dfrac  {f(b)-f(a)}{g(b)-g(a)}}={\dfrac  {f'(x_{0})}{g'(x_{0})}}.

Beweis

Ist g(a)=g(b), so muss für den verallgemeinerten Mittelwertsatz der Differentialrechnung gezeigt werden, dass für ein x_{0}\in (a,b) Folgendes gilt

0=g'(x_{0})\,(f(b)-f(a)).

Nach dem Satz von Rolle gibt es ein x_{0}, für das g'(x_{0})=0 gilt.

Ist g(a)\neq g(b), so kann man die Funktion

h(x):=f(x)-\frac{f(b)-f(a)}{g(b)-g(a)}(g(x)-g(a))

auf dem Intervall [a,b] definieren. Da h(a)=h(b) gilt, gibt es nach dem Satz von Rolle ein x_{0}\in (a,b) mit h'(x_{0})=0, also

{\displaystyle f'(x_{0})-{\frac {f(b)-f(a)}{g(b)-g(a)}}g'(x_{0})=0}.

Durch Umstellen dieser Gleichung folgt die Behauptung.

Mittelwertsatz für reellwertige Funktionen mehrerer Variablen

In der mehrdimensionalen Analysis lautet der Mittelwertsatz wie folgt:

Es sei {f} eine Abbildung mit f:{\mathbb  {R}}^{{n}}\to {\mathbb  {R}}, weiter sei f differenzierbar auf einer offenen Menge G\subseteq D(f). Außerdem seien {\vec  x}_{1},{\vec  x}_{2}\in G mit {\vec  x}_{1}\neq {\vec  x}_{2} und ihre Verbindungsstrecke \overline {x_{1}x_{2}}\subseteq G. Dann existiert mindestens ein {\vec  x}_{0}\in \overline {x_{1}x_{2}} mit {\vec  x}_{0}\neq {\vec  x}_{1} und {\vec  x}_{0}\neq {\vec  x}_{2} und es gilt:

f({\vec  x}_{2})-f({\vec  x}_{1})=\nabla f({\vec  x}_{0})\cdot ({\vec  x}_{2}-{\vec  x}_{1})

Für n=1 entspricht der Satz dem oben erwähnten Mittelwertsatz der eindimensionalen Differentialrechnung. \nabla f({\vec  x}_{0}) bezeichnet hierbei den Gradienten an der Stelle x_{0}, der in einem Skalarprodukt auftritt.

Geometrisch gedeutet, tritt die Sekantensteigung zwischen f({\vec  x}_{1}) und f({\vec  x}_{2}) an mindestens einer Stelle aus \overline {x_{1}x_{2}} als Steigung in Richtung des Vektors ({\vec  x}_{2}-{\vec  x}_{1}) auf.

Beweis im mehrdimensionalen Fall

Betrachtet man die Funktion h:{\mathbb  {R}}\to {\mathbb  {R}} mit

h(t)=f({\vec  x}_{1}+t\cdot ({\vec  x}_{2}-{\vec  x}_{1})),

so ist h stetig auf [0,1] und differenzierbar auf (0,1). Somit folgt aus dem Mittelwertsatz der eindimensionalen Analysis, dass ein y_{0} derart existiert, dass

h(1)-h(0)=h'(y_{0}).

Aus der Kettenregel folgt nun:

h'(t)=\nabla f({\vec  x}_{1}+t\cdot ({\vec  x}_{2}-{\vec  x}_{1}))\cdot ({\vec  x}_{2}-{\vec  x}_{1}).

Dies lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:

h(1)-h(0)=\nabla f({\vec  x}_{1}+y_{0}\cdot ({\vec  x}_{2}-{\vec  x}_{1}))\cdot ({\vec  x}_{2}-{\vec  x}_{1})

Substituiert man nun {\vec  x}_{1}+y_{0}\cdot ({\vec  x}_{2}-{\vec  x}_{1}) durch \vec x_0, so ergibt sich

f({\vec  x}_{2})-f({\vec  x}_{1})=h(1)-h(0)=\nabla f({\vec  x}_{0})\cdot ({\vec  x}_{2}-{\vec  x}_{1}),

womit die Aussage des Satzes bewiesen wäre.

Mittelwertsatz für vektorwertige Funktionen mehrerer Variablen

Eine Ausdehnung des Satzes auf Funktionen f:{\mathbb  {R}}^{{n}}\to {\mathbb  {R}}^{{m}} ist nur unter veränderten geometrischen Voraussetzungen bzw. Verschärfungen möglich. Insbesondere wird der Pool der in Frage kommenden linearen Abbildungen erheblich über die Ableitungen auf der Strecke \overline {x_{1}x_{2}} hinaus erweitert:

Falls die Ableitungen von f auf der gesamten Strecke \overline {x_{1}x_{2}} beschränkt sind (es handelt sich um Jacobimatrizen, also beschränkt bezüglich einer Norm auf {\mathrm  {Hom}}({\mathbb  {R}}^{{n}},{\mathbb  {R}}^{{m}}), zum Beispiel der Operatornorm), so gibt es eine lineare Abbildung A aus der abgeschlossenen konvexen Hülle der Ableitungen auf der Verbindungsstrecke, sodass

f({\vec  x}_{2})-f({\vec  x}_{1})=A\cdot ({\vec  x}_{2}-{\vec  x}_{1})\,,\,A=\int _{0}^{1}D\!f\left({\vec  x}_{1}+t\left({\vec  x}_{2}-{\vec  x}_{1}\right)\right)\,{\mathrm  d}t\in \overline {{\mathrm  {conv}}}\left\{D\!f(x){\big |}{\vec  x}\in \overline {x_{1}x_{2}}\right\}

gilt.

Der Beweis hierfür erfolgt über den Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung auf die Hilfsfunktionen f_i(x+th) . Warum die Ableitungen auf der Strecke \overline {x_{1}x_{2}} nicht ausreichen, kann man folgendermaßen verstehen: Auf die einzelnen Komponenten f_{i} der vektorwertigen Funktion f=(f_{1},f_{2},\dots ,f_{m}) kann einerseits der Mittelwertsatz für reellwertige Funktionen mehrerer Veränderlicher angewandt werden. Andererseits ist keinesfalls gewährleistet, dass die zugehörige Stelle auf \overline {x_{1}x_{2}}, an der die passende Ableitung gefunden wird, für alle Komponentenfunktionen dieselbe ist. Man muss sich daher in einer größeren Menge umschauen, eben der konvexen Hülle der Ableitungen auf der Strecke.

Anschauliche Bedeutung

Beschreibt die Funktion beispielsweise eine Strecke in Abhängigkeit von einer Zeit, dann ist die Ableitung die Geschwindigkeit. Der Mittelwertsatz besagt dann: Auf dem Weg von A nach B muss man mindestens zu einem Zeitpunkt so schnell gewesen sein wie seine Durchschnittsgeschwindigkeit.

Siehe auch

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Datum der letzten Änderung:  Jena, den: 05.02. 2019