Materialermüdung
Die Materialermüdung beschreibt einen langsam voranschreitenden Schädigungsprozess in einem Werkstoff unter Umgebungseinflüssen wie wechselnder mechanischer Belastung, wechselnder Temperatur, UV-Strahlung, ionisierender Strahlung, eventuell unter zusätzlicher Einwirkung eines korrosiven Mediums.
Materialermüdung bedeutet, dass auch eine statisch unkritische Belastung (noch im elastischen Bereich, also noch unterhalb der Streckgrenze des Werkstoffs) zu einer Funktionsuntüchtigkeit (Ermüdungsrissbildung) oder auch zum Totalausfall (Ermüdungsbruch) eines Bauteils führen kann, wenn sie oft genug auf das Bauteil einwirkt.
Zyklisch belastete Teile haben daher prinzipiell eine begrenzte Lebensdauer. Deshalb muss man an kritischen Bauteilen vor dem Einsatz eine Lebensdauerbewertung, -berechnung oder Versuche durchführen, die eine Abschätzung der Haltbarkeit des Bauteils zulassen. Bauteile, die theoretisch unbegrenzt viele Zyklen ertragen (weil sie aus bestimmten, dafür geeigneten Werkstoffen bestehen), bezeichnet man als dauerfest.
Einfaches Beispiel: Die Halterung eines Kugelschreibers kann mehrmals elastisch hin- und hergebogen werden. Mit der Anzahl der Biegevorgänge nimmt allerdings die Wahrscheinlichkeit eines Bruches zu. Die Redewendung „Steter Tropfen höhlt den Stein“ oder das philosophische Gesetz vom „Umschlagen quantitativer Veränderungen in qualitative“ beschreibt dieses Phänomen.
Die genaue Betrachtung des Bruchbildes eines Bauteils zeigt, ob ein Gewalt- oder ein Ermüdungsbruch vorliegt. Daraus müssen Schlussfolgerungen gezogen werden, um das Bauteilversagen in Zukunft zu vermeiden.
Unterarten
Man unterscheidet
- isotherme mechanische Ermüdung (z.B. Ermüdung unter zyklischer mechanischer Beanspruchung bei konstanter Temperatur, s.a. Wöhlerversuch, Vibration)
- thermische Ermüdung
- thermo-mechanische Ermüdung
- Kriechermüdung
- tribologische Ermüdung
Isotherme mechanische Ermüdung
Als mechanische Materialermüdung metallischer Werkstoffe wird der Prozess bezeichnet, der letztlich zum Versagen eines Bauteils oder Werkstoffes durch Bildung eines Anrisses, Erreichen einer bestimmten Risslänge oder Ermüdungsbruch führt. Der Prozess beginnt mit lokalen Versetzungsbewegungen, die bereits bei Beanspruchungen unterhalb der Streckgrenze vor allem an der Bauteiloberfläche an Querschnittsübergängen und Oberflächenkerben oder im Volumen an Werkstoffinhomogenitäten wie Einschlüssen, Poren, Ausscheidungen, Dispersionen etc. durch lokale Spannungsüberhöhungen auftreten.
Durch wiederholte Beanspruchung bilden sich statistisch regellos verteilte Bereiche lokaler plastischer Verformungen. Im weiteren Verlauf der Beanspruchung bilden sich daraus Versetzungskonfigurationen, die schädigende Wirkung durch Konzentration plastischer Verformungen auf sehr kleine Bereiche haben können.
Das weitere Verhalten unter zyklischer Beanspruchung ist stark vom Werkstoff und seiner Vorgeschichte abhängig. Meist bilden sich in oberflächennahen Werkstoffbereichen Ermüdungsgleitbänder, sog. persistente Gleitbänder, aus, die dann unter 45° zur Beanspruchungsrichtung (höchste Schubspannung und daher bevorzugte Richtung der Versetzungsbewegung, Mohrscher Spannungskreis) sogenannte Ex- und Intrusionen an der Bauteiloberfläche bilden. Diese wirken wie scharfe Kerben und initiieren Mikrorisse, die parallel zu den Gleitbändern verlaufen. Nach einigen Mikrometern (häufig etwa doppelter Korndurchmesser des Gefüges) schwenken die Risse um und verlaufen unter 90° zur Beanspruchungsrichtung.
Bei Erreichen einer bestimmten Risslänge spricht man dann von Makrorissen oder sogenannten technischen Anrissen, die sich in Abhängigkeit von der Rissgeometrie, der Beanspruchungsart (Rissmoden) und der -höhe ausbreiten. Erreicht der Anriss die sogenannte kritische Risslänge, versagt das Bauteil durch instabile Rissausbreitung (Gewaltbruch) im Restquerschnitt.
Schwingende Beanspruchung
Materialermüdung kann durch schwingende, dynamische Belastung auftreten. Die Spannung, bei der ein dynamisch belastetes Bauteil bricht, liegt jedoch deutlich unterhalb der Zugfestigkeit und meist auch unterhalb der Streckgrenze des verwendeten Werkstoffs. Die Schwingfestigkeit von Werkstoffen oder Bauteilen wird im Wöhlerversuch ermittelt. Hierfür werden die Versuchskörper zyklisch, meist unter einer sinusförmigen Beanspruchungs-Zeit-Funktion, belastet. Der Versuch läuft, bis ein definiertes Versagen (Bruch, Anriss) eintritt oder eine festgelegte Grenzschwingspielzahl erreicht wird. Versuchskörper, die die Grenzschwingspielzahl ohne erkennbares Versagen erreichen, werden als Durchläufer bezeichnet.
Die Ergebnisse des Versuchs trägt man in ein doppellogarithmisches Diagramm ein. Üblicherweise wird im Wöhlerdiagramm die Nennspannungsamplitude Sa über der ertragbaren Schwingspielzahl aufgetragen. Den sich ergebenden Kurvenzug nennt man die Wöhlerkurve oder auch Wöhlerlinie. In der nebenstehenden Wöhlerkurve sind die drei Bereiche K, Z und D eingetragen.
- K ist der Bereich der Kurzzeitfestigkeit bzw. Kurzzeitschwingfestigkeit unterhalb von ca. 104 bis 105 Schwingspielen. Diese Art der Ermüdung tritt bei hohen plastischen Dehnamplituden auf, die zu frühem Versagen führen. Um diesen Bereich genauer darzustellen, wird in der Regel die Coffin-Manson-Auftragung herangezogen.
- Z ist der Bereich der Zeitfestigkeit bzw. Zeitschwingfestigkeit zwischen 104 und materialabhängig etwa 2·106 Schwingspielen, in dem die Wöhlerkurve bei doppellogarithmischer Darstellung nahezu gerade verläuft.
- D ist der anschließende Bereich der so genannten Dauerfestigkeit. Bei ferritisch-perlitischen Stählen beginnt der Bereich der Dauerfestigkeit bei ca. 1–5·106. Bei austenitischen Stählen und kfz Basiswerkstoffen (z.B. Aluminium, Gold, Kupfer) fällt die ertragbare Amplitude weiter ab. Eine „echte“ Dauerfestigkeit existiert hier nicht. Daher wird hier meist die ertragbare Amplitude bei 107 Lastwechseln als Dauerfestigkeit bezeichnet. Unterliegt ein Bauteil ständiger Korrosion oder stark erhöhten Temperaturen, so kann nicht mehr mit einer Dauerfestigkeit gerechnet werden. Zur Bestimmung der Dauerfestigkeit werden Schaubilder wie das Haigh-Diagramm oder das Smith-Diagramm verwendet.
Unterhalb der Dauerfestigkeit SaD kann ein Bauteil prinzipiell beliebig viele Schwingspiele ertragen. Belastungen oberhalb der Dauerfestigkeit bewirken ein Versagen des Bauteils nach einer bestimmten Zahl an Schwingspielen. Die Zahl der ertragenen Schwingspiele eines Bauteils unter Betriebsbelastung (variable Belastungsamplituden) bis zum Ausfall kann im Rahmen statistischer Genauigkeit mit Hilfe der Wöhlerlinie vorausgesagt werden. Dazu verwendet man die Methoden der linearen Schadensakkumulation nach Palmgren, Langer und Miner. Man spricht hierbei von betriebsfester Bemessung eines Bauteils. Betriebsfestigkeit wird heute in nahezu allen Bereichen der Technik zum Zweck des Leichtbaus eingesetzt.
Siehe auch
Literatur
- Bernhard Ilschner: Hochtemperatur-Plastizität. Springer-Verlag, 1973.
- Joachim Rösler, Harald Harders, Martin Bäker: Mechanisches Verhalten der Werkstoffe. Teubner, 2006.
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 07.11. 2023