KAPITEL V | Inhalt | 2. „Die Materie ist verschwunden"
1. Die Krise der modernen Physik
Der bekannte französische Physiker Henri Poincaré meint in seinem Buch „Der Wert der Wissenschaft", es gebe „Anzeichen einer ernsthaften Krise" der Physik, und er widmet dieser Krise ein besonderes Kapitel (eh. VIII, vgl. p. 171 [S. 129]). Diese Krise erschöpfe sich nicht darin, daß „der große Revolutionär Radium" das Prinzip der Erhaltung der Energie in Frage stelle. „Auch alle anderen Prinzipien sind in Gefahr." (180 [136].) Zum Beispiel das Lavoisiersche Prinzip oder das Prinzip der Erhaltung der Masse sei durch die Elektronentheorie der Materie untergraben. Nach dieser Theorie werden die Atome von kleinsten, mit positiver oder negativer Elektrizität geladenen Teilchen (Elektronen) gebildet, die „in eine Umgebung getaucht sind, die wir Äther nennen". Die Experimente der Physiker liefern das Material, um die Bewegungsgeschwindigkeit der Elektronen und ihre Masse (bzw. das Verhältnis ihrer Masse zu ihrer elektrischen Ladung) zu berechnen. Die Bewegungsgeschwindigkeit ist der Lichtgeschwindigkeit (300 000 km in der Sekunde) vergleichbar,
sie erreicht beispielsweise ein Drittel dieser Geschwindigkeit. Unter diesen Umständen muß eine zweifache Masse des Elektrons in Betracht gezogen werden entsprechend der Notwendigkeit, die Trägheit erstens des Elektrons selbst und zweitens die des Äthers zu überwinden. Die erste Masse wird die reale oder mechanische Masse des Elektrons sein, die zweite „die elektrodynamische Masse, die die Trägheit des Äthers darstellt". Und nun erweist sich die erste Masse gleich Null. Die ganze Masse der Elektronen, oder wenigstens der negativen Elektronen, erweist sich ihrem Ursprung nach gänzlich und ausschließlich als elektrodynamisch. Die Masse verschwindet. Die Grundlagen der Mechanik werden untergraben. Untergraben wird das Prinzip Newtons, die Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung, usw.100
Vor uns liegen, sagt Poincaré, die „Ruinen" der alten Prinzipien der Physik, wir erleben einen „allgemeinen Zusammenbruch der Prinzipien". Allerdings, bemerkt er, alle diese Ausnahmen von den Prinzipien beziehen sich nur auf unendlich kleine Größen; es ist wohl möglich, daß wir andere unendlich kleine Größen, die der Erschütterung der alten Gesetze entgegenwirken, noch nicht kennen. Außerdem ist das Radium sehr selten. Jedenfalls aber ist eine „Periode der Zweifel" da. Die erkenntnistheoretischen Schlußfolgerungen des Verfassers aus dieser „Periode der Zweifel" haben wir schon kennengelernt: „Nicht die Natur drängt uns die Begriffe von Raum und Zeit auf, sondern wir drängen sie der Natur auf", „alles, was nicht Gedanke ist, ist das reinste Nichts." Das sind idealistische Schlußfolgerungen. Die Zerstörung der grundlegendsten Prinzipien beweise (so der Gedankengang Poincarés), daß diese Prinzipien nicht irgendwelche Kopien, Abbilder der Natur, nicht Abbildungen von irgend etwas außerhalb des menschlichen Bewußtseins Liegendem, sondern Produkte dieses Bewußtseins seien. Poincaré entwickelt diese Schlußfolgerungen nicht konsequent, er hat kein irgendwie wesentliches Interesse für die philosophische Seite der Frage. Diese wird in ausführlichster Weise behandelt von dem französischen philosophischen Schriftsteller Abel Rey in seinem Buch „Die Theorie der Physik bei den modernen Physikern" (Abel Rey, „La théorie de la physique chez les physiciens contemporains", Paris, F. Alcan, 1907*). Der Verfasser ist allerdings selbst Positivist, das
* Im vorliegenden Band mit Abänderungen zitiert nach der deutschen Ausgabe Leipzig 1908. Der Übers.
heißt ein Wirrkopf und halber Machist, aber in diesem Falle bietet das sogar einen gewissen Vorteil, da man ihn nicht verdächtigen kann, den Abgott unserer Machisten „verleumden" zu wollen. Wo es sich um eine genaue philosophische Bestimmung der Begriffe und insbesondere um den Materialismus handelt, darf man Rey nicht trauen, denn Rey ist gleichfalls Professor und als solcher voll grenzenloser Verachtung für die Materialisten (und zeichnet sich in bezug auf die Erkenntnistheorie des Materialismus durch grenzenlose Unwissenheit aus). Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß irgend so ein Marx oder Engels für diese „Männer der Wissenschaft" überhaupt nicht existiert. Doch faßt Rey die außerordentlich reiche Literatur über diese Frage, und zwar nicht nur die französische, sondern auch die englische und die deutsche (besonders Ostwald und Mach) sorgfältig und im allgemeinen gewissenhaft zusammen, so daß wir uns des öfteren seiner Arbeit bedienen werden.
Die Aufmerksamkeit der Philosophen im allgemeinen, meint der Verfasser, sowie derjenigen, die aus diesem oder jenem Motiv die Wissenschaft überhaupt kritisieren wollen, sei jetzt besonders auf die Physik gerichtet. „Indem man die Grenzen und den Wert der physikalisdien Wissensdiaft analysiert, kritisiert man im Grunde die Berechtigung der positiven Wissenschaft, die Möglidikeit einer Erkenntnis des Objekts." (p. I/II [S. III].) Aus der „Krise der modernen Physik" beeile man sich skeptische Schlußfolgerungen zu ziehen (p. 14 [S. 13]). Worin besteht nun das Wesen dieser Krise? Während der ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts stimmten die Physiker in allem Wesentlichen miteinander überein. „Man glaubt an eine rein mechanische Erklärung der Natur; man nimmt an, daß die Physik nur eine kompliziertere Mechanik sei, nämlich eine Molekularmechanik. Uneinig ist man nur über die Methoden, wie die Physik auf die Mechanik zurückzuführen sei, und über die Details des Mechanismus." „Heute scheint das Bild, das die physikohchemisdien Wissenschaften uns bieten, ein völlig anderes zu sein. An die Stelle der allgemeinen Einigkeit sind extreme Unstimmigkeiten getreten, und zwar Unstimmigkeiten nicht mehr nur in den Details, sondern in den grundlegenden und leitenden Ideen. Wenn es auch übertrieben wäre zu sagen, daß jeder Forscher seine eigenen Tendenzen habe, so muß man doch konstatieren, daß ebenso wie die Kunst auch die Wissenschaft, und insbesondere die Physik, zahlreiche Schulen aufweist, mit oft ausein-
andergehenden, mitunter entgegengesetzten und feindlichen Schlußfolgerungen ...
Daraus kann man die Bedeutung und den Umfang dessen, was man die Krise der modernen Physik genannt hat, ersehen.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die traditionelle Physik an, es genüge die einfache Fortsetzung der Physik, um zu einer Metaphysik der Materie zu gelangen. Diese Physik maß ihren Theorien ontologische Bedeutung bei. Und diese Theorien waren ganz und gar mechanistisch. Der traditionelle Mechanismus" (Rey gebraucht dieses Wort in einem besonderen Sinn und versteht darunter das System der Anschauungen, die die Physik auf die Mechanik zurückführen) „stellte demnach, über den Ergebnissen der Erfahrung und jenseits der Ergebnisse der Erfahrung, die reale Erkenntnis der materiellen Welt dar. Das war kein hypothetischer Ausdruck der Erfahrung; das war ein Dogma ..." (16 [15/16].)
Hier müssen wir den verehrten „Positivisten" unterbrechen. Es ist klar, daß er uns die materialistische Philosophie der traditionellen Physik schildert, ohne den Teufel (d. h. den Materialismus) beim Namen nennen zu wollen. Einem Humeisten muß der Materialismus als Metaphysik, als Dogma, als ein überschreiten der Grenzen der Erfahrung usw. erscheinen. Der Humeist Rey, der den Materialismus nicht kennt, hat erst recht keine Ahnung von der Dialektik, von dem Unterschied zwischen dialektischem und metaphysischem Materialismus im Engelsschen Sinne des Wortes. Deswegen ist zum Beispiel das Verhältnis von absoluter und relativer Wahrheit für Rey absolut unklar.
„... Die kritischen Bemerkungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen den traditionellen Mechanismus erhoben wurden, untergruben diese Voraussetzung der ontologischen Realität des Mechanismus. Auf dem Boden dieser Kritik setzte sich eine philosophische Auffassung der Physik fest, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Philosophie schon fast zur Tradition wurde. Die Wissenschaft war nach dieser Auffassung nur mehr eine symbolische Formel, ein Mittel der Darstellung" (der Bezeichnung, reperage, der Schaffung von Zeichen, Merkmalen, Symbolen), „und da dieses Mittel der Darstellung bei den verschiedenen Schulen verschieden ist, so wurde bald der Schluß gezogen, daß hierbei nur das vermerkt werde, was vorher von Menschen für die Bezeichnung" (für die Symbolisierung) „geschaffen (façonné) wurde. Die
Wissenschaft wurde zum Kunstwerk für die Dilettanten, zum Kunstwerk für die Utilitaristen: ein Standpunkt, den man natürlicherweise allgemein als Verneinung der Möglichkeit der Wissenschaft auszulegen begann. Eine Wissenschaft als bloßes künstliches Mittel, um auf die Natur einzuwirken, als einfache utilitaristische Technik, hat kein Recht, sich Wissenschaft zu nennen, wenn man den Sinn der Worte nicht entstellen will. Sagen, daß die Wissenschaft nichts anderes als ein künstliches Mittel der Einwirkung auf die Natur sein könne, heißt die Wissenschaft im eigentlichen Sinne des Wortes leugnen.
Das Scheitern des traditionellen Mechanismus oder, genauer, die Kritik, der er unterworfen wurde, führte zu der These: die Wissenschaft selbst ist gescheitert. Von der Unmöglichkeit, sich schlechtweg und ausschließlich an den traditionellen Mechanismus zu halten, schloß man auf die Unmöglichkeit der Wissenschaft." (16/17 [16/17].)
Und der Verfasser wirft die Frage auf: „Ist die jetzige Krise der Physik ein vorübergehender und äußerlicher Zwischenfall in der Entwicklung der Wissenschaft, oder macht die Wissenschaft eine jähe Wendung und verläßt endgültig den bisher verfolgten Weg ...?"
„...Wenn diese" (die physiko-chemischen) „Wissenschaften, die, historisch gesehen, wesentlich emanzipatorisch gewirkt haben, in einer Krise untergehen, die ihnen nur den Wert technisch nützlicher Rezepte läßt, ihnen aber jegliche Bedeutung im Hinblick auf die Naturerkenntnis nimmt, so muß dies sowohl in der Logik als auch in der Ideengeschichte einen völligen Umsturz hervorrufen. Die Physik verliert jeden erzieherischen Wert; der positive Geist, den sie repräsentiert, wird falsch und gefährlich." Die Wissenschaft könne nur praktische Rezepte geben, aber kein wirkliches Wissen. „Die Erkenntnis des Realen muß mit anderen Mitteln gesucht werden... Man muß einen anderen Weg einschlagen, man muß einer subjektiven Intuition, einem mystischen Gefühl der Realität, mit einem Wort dem Geheimnisvollen, alles das zurückgeben, was man ihm durch die Wissenschaft entrissen zu haben glaubte." (19 [18/19].)
Als Positivist hält der Verfasser eine derartige Auffassung für falsch und die Krise der Physik für vorübergehend. Wie Rey, Mach, Poincaré und Co. von diesen Schlußfolgerungen befreit, werden wir weiter unten sehen. Jetzt wollen wir uns darauf beschränken, die Tatsache der „Krise"
und ihre Bedeutung zu konstatieren. Aus den letzten von uns angeführten Worten Reys erhellt, welche reaktionären Elemente sich diese Krise zunutze gemacht und sie verschärft haben. Im Vorwort zu seinem Werk erklärt Rey geradeheraus, daß „die fideistische und antiintellektualistische Bewegung der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts" bestrebt sei, sich auf „den allgemeinen Geist der modernen Physik zu stützen" (II [III/IV]). Fideisten (vom lateinischen Wort fides - Glaube) nennt man in Frankreich diejenigen, die den Glauben über die Vernunft setzen. Als Antiintellektualismus wird die Lehre bezeichnet, die die Rechte bzw. Ansprüche der Vernunft leugnet. Folglich besteht das Wesen der „Krise der modernen Physik" in philosophischer Hinsicht darin, daß die alte Physik in ihren Theorien die „reale Erkenntnis der materiellen Welt", d.h. die Widerspiegelung der objektiven Realität sah. Die neue Strömung in der Physik sieht in der Theorie nur Symbole, Zeichen, Merkmale für die Praxis, d. h., sie leugnet die Existenz der von unserem Bewußtsein unabhängigen und von ihm widergespiegelten objektiven Realität. Hätte sich Rey einer richtigen philosophischen Terminologie bedient, so hätte er sagen müssen; die von der früheren Physik spontan angenommene materialistische Erkenntnistheorie wurde durch die idealistische und agnostische abgelöst, was sich der Fideismus, entgegen dem Wunsch der Idealisten und Agnostiker, zunutze machte.
Doch diesen Wechsel, der die Krise ausmacht, stellt sich Rey nicht so vor, als stünden sämtliche neuen Physiker gegen sämtliche alten Physiker. Nein. Er zeigt, daß die modernen Physiker sich ihren erkenntnistheoretischen Tendenzen nach in drei Schulen scheiden: in die energetische oder konzeptualistische (conceptuelle - von dem Wort concept - reiner Begriff), die mechanistische oder neomechanistische, der nach wie vor die überwiegende Mehrheit der Physiker angehört, und eine dazwischenliegende, kritische Schule. Zur ersten zählen Mach und Duhem; zur dritten Henri Poincaré; zur zweiten Kirchhoff, Helmhoitz, Thomson (Lord Kelvin), Maxwell von den alten, Larmor, Lorentz von den neueren Physikern. Worin das Wesen der beiden Grundrichtungen besteht (die dritte ist nämlich nicht selbständig, sondern eine Zwischenrichtung), ersieht man aus folgenden Worten Reys:
„Der traditionelle Mechanismus hat ein System der materiellen Welt konstruiert." In der Lehre von der Struktur der Materie ging er von
„qualitativ homogenen und identischen Elementen" aus, wobei die Elemente als „unveränderlich, undurchdringlich" usw. zu betrachten waren. Die Physik „konstruierte ein reales Gebäude aus realen Materialien und mit realem Mörtel. Der Physiker verfügte über die materiellen Elemente, die Ursachen und die Art, ihres Wirkens, über die realen Gesetze ihres Wirkens." (33-38 [30-35].) „Die Modifikationen in dieser Auffassung der Physik bestehen vornehmlich darin, daß der ontologische Wert der Theorien abgelehnt und die phänomenologische Bedeutung der Physik außerordentlich betont wird." Die konzeptualistische Auffassung habe es mit „reinen Abstraktionen" zu tun, sie „sucht nach einer rein abstrakten Theorie, die möglichst die Hypothese der Materie ausschalten soll". „Der Begriff der Energie wurde so zum Unterbau (substructure) der neuen Physik. Daher kann die konzeptualistische Physik größtenteils als energetische Physik bezeichnet werden", obzwar diese Bezeichnung zum Beispiel auf einen solchen Vertreter der konzeptualistischen Physik wie Mach schlecht passe (p. 46 [S. 41]).
Diese Vermengung von Energetik und Machismus bei Rey ist selbstverständlich nicht ganz richtig, ebenso wie die Versicherung, daß auch die neomechanistische Schule, trotz ihrer tiefgehenden Divergenzen mit den Konzeptualisten, zu einer phänomenologischen Auffassung der Physik gelange (p. 48 [S. 43, 44]). Reys „neue" Terminologie hellt die Sache nicht auf, sondern verdunkelt sie, wir konnten sie aber nicht umgehen, wollten wir dem Leser eine Vorstellung davon geben, wie ein „Positivist" die Krise in der Physik auffaßt. Dem Wesen der Sache nach deckt sich die Gegenüberstellung der „neuen" Schule und der alten Ansicht, wie der Leser sich vergewissern konnte, durchaus mit der früher angeführten Kritik, die Kleinpeter an Helmhoitz übte. Bei der Wiedergabe der Ansichten der verschiedenen Physiker widerspiegelt Rey in seiner Darstellung die ganze Verschwommenheit und Haltlosigkeit ihrer philosophischen Ansichten. Das Wesen der Krise der modernen Physik besteht in der Zerstörung der alten Gesetze und Grundprinzipien, in der Preisgabe der außerhalb des Bewußtseins existierenden objektiven Realität, d. h. in der Ersetzung des Materialismus durch Idealismus und Agnostizismus. „Die Materie ist verschwunden" - so kann man die grundlegende und in bezug auf viele Einzelfragen typische Schwierigkeit, die diese Krise geschaffen hat ausdrücken. Bei dieser Schwierigkeit wollen wir denn auch verweilen.
Datum der letzten Änderung : Jena, den: 22.03.2013