6. über den Solipsismus von Mach und Avenarius | Inhalt | 2. Über den „Transzensus", oder W. Basarow „bearbeitet" Engels
KAPITEL II
DIE ERKENNTNISTHEORIE DES EMPIRIOKRITIZISMUS UND DES DIALEKTISCHEN MATERIALISMUS II
1. Das „Ding an sich", oder W. Tschernow widerlegt Friedrich Engels
Unsere Machisten haben so viel über das „Ding an sich" geschrieben, daß, wollte man das alles zusammentun, sich ganze Berge bedruckten Papiers ergeben würden. Das „Ding an sich" ist für Bogdanow und Walentinow, Basarow und Tschernow, Berman und Juschkewitsch eine wahre bete noire*. Es gibt kein „derbes" Wort, das sie nicht an diese Adresse gerichtet, keinen Spott, den sie nicht darüber ausgeschüttet hätten. Gegen wen aber richtet sich der Kampf wegen dieses unglückseligen „Dinges an sich" ? Hier beginnt die Trennung der Philosophen des russischen Machismus nach politischen Parteien. Alle Machisten, die Marxisten sein möchten, bekämpfen Plechanows „Ding an sich" und werfen Plechanow vor, daß er sich verhaspelt habe und in den Kantianismus hineingeraten sei und daß er von Engels abgewichen sei. (über den ersten Vorwurf werden wir im vierten Kapitel sprechen, über den zweiten hier.) Der Machist Herr W. Tschernow, ein Volkstümler und geschworener Feind des Marxismus, zieht für das „Ding an sich" direkt gegen Engels ins Feld.
Es ist eine Schande, eingestehen zu müssen, wäre aber eine Sünde, zu verheimlichen, daß die offene Gegnerschaft gegen den Marxismus in die-
* Wörtlich: schwarzes Tier; Schreckgespenst, Gegenstand des Widerwillens, des Hasses. Die Red.
sem Falle aus Herrn Wiktor Tschernow einen prinzipielleren literarischen Gegner gemacht hat, als unsere Genossen in der Partei und Opponenten in der Philosophie es sind.41 Denn nur das böse Gewissen (und obendrein vielleicht noch die Unkenntnis des Materialismus?) haben es bewirkt, daß die Machisten, die Marxisten sein möchten, Engels diplomatisch beiseite ließen, Feuerbach gänzlich ignorierten und ausschließlich auf Plechanow herumritten. Denn das ist nichts anderes als Herumreiten, als langweilige und kleinliche Zänkerei und ein Herumkritteln an einem Schüler von Engels, während man einer unmittelbaren Analyse der Auffassungen des Lehrers feige aus dem Wege geht. Und da es die Aufgabe dieser flüchtigen Aufzeichnungen ist, den reaktionären Charakter des Machismus und die Richtigkeit des Materialismus von Marx und Engels zu beweisen, so lassen wir unberücksichtigt, wie sich die Machisten, die Marxisten sein möchten, mit Plechanow balgen, und wenden uns unmittelbar Engels zu, den der Empiriokritiker Herr W. Tschernow widerlegen will. In seinen „Philosophischen und soziologischen Studien" (Moskau 1907 - eine Sammlung von Artikeln, die fast alle vor dem Jahre 1900 geschrieben wurden) beginnt der Aufsatz „Marxismus und Transzendentalphilosophie" direkt mit dem Versuch, Marx gegen Engels auszuspielen und Engels eines „naivdogmatischen Materialismus" und „gröbster materialistischer Dogmatik" zu bezichtigen (S. 29 und 32). Für Herrn W. Tschernow sind die Engelsschen Ausführungen gegen das Kantsche Ding an sich und gegen die philosophische Linie Humes ein „hinreichender" Beleg. Mit diesen Ausführungen wollen wir denn auch beginnen.
In seinem „Ludwig Feuerbach" erklärt Engels Materialismus und Idealismus für die Grundrichtungen der Philosophie. Der Materialismus betrachtet die Natur als das Primäre, den Geist als das Sekundäre, er setzt das Sein an die erste, das Denken an die zweite Stelle. Für den Idealismus gilt das Umgekehrte. Diesen Grundunterschied der „zwei großen Lager", in die sich die Philosophen der „verschiedenen Schulen" des Idealismus und des Materialismus spalten, macht Engels zum Eckpfeiler seiner Betrachtungen und beschuldigt jene, die die beiden Ausdrücke Idealismus und Materialismus in einem ändern Sinne gebrauchen, direkt der „Verwirrung".
Die „höchste Frage der gesamten Philosophie", „die große Grundfrage aller, speziell neueren Philosophie", sagt Engels, ist „die Frage nach dem
Verhältnis des Denkens zum Sein, des Geistes zur Natur". Engels, der die Philosophen entsprechend dieser Grundfrage in „zwei große Lager" einteilt, weist darauf hin, daß diese philosophische Grundfrage „noch eine andre Seite" habe, und zwar: „Wie verhalten sich unsre Gedanken über die uns umgebende Welt zu dieser Welt selbst? Ist unser Denken imstande, die wirkliche Welt zu erkennen, vermögen wir in unsern Vorstellungen und Begriffen von der wirklichen Welt ein richtiges Spiegelbild der Wirklichkeit zu erzeugen?"*
„Diese Frage... wird von der weitaus größten Zahl der Philosophen bejaht", sagt Engels, der damit nicht nur alle Materialisten, sondern auch die konsequentesten Idealisten meint, zum Beispiel den absoluten Idealisten Hegel, für den die wirkliche Welt die Verwirklichung der „absoluten Idee" ist, die von Ewigkeit her existiert, wobei der menschliche Geist in dem richtigen Erkennen der wirklichen Welt in dieser und vermittels ihrer die „absolute Idee" erkennt.
„Daneben" (d. h. neben den Materialisten und den konsequenten Idealisten) „gibt es aber noch eine Reihe andrer Philosophen, die die Möglichkeit einer Erkenntnis der Welt oder doch einer erschöpfenden Erkenntnis bestreiten. Zu ihnen gehören unter den neueren Hume und Kant, und sie haben eine sehr bedeutende Rolle in der philosophischen Entwicklung gespielt .. ."42
Herr W. Tschernow stürzt sich nun, diese Worte von Engels zitierend, in die Schlacht. Zu dem Wort „Kant" macht er folgende Anmerkung:
„Im Jahre 1888 war es ziemlich auffallend, solche Philosophen, wie Kant und insbesondere Hume, ,neuere' zu nennen. In dieser Zeit wäre es natürlicher gewesen, Namen wie Cohen, Lange, Riehl, Laas, Liebmann, Göring usw. zu hören. Engels jedoch war anscheinend in der ,neueren' Philosophie nicht sehr bewandert." (S. 33, Fußnote 2.)
Herr W. Tschernow bleibt sich treu. Sowohl in ökonomischen als auch
* Fr. Engels, „L. Feuerbach etc.", 4. dtsch. Aufl., S. 15. russ. übers., Genf 1905, S. 12/13. Herr W. Tschernow übersetzt das Wort [Spiegelbild] wörtlich ins Russische („эеркальное отражение") und wirft Plechanow vor, daß er die Engelssche Theorie „bedeutend abgeschwächt" wiedergebe: er sage russisch einfach „Abbild" und nicht „Spiegelbild". Das ist eine Nörgelei. Das Wort [Spiegelbild] wird im Deutschen auch einfach im Sinne von [Abbild] gebraucht.
in philosophischen Fragen gleicht er dem Turgenjewschen Woroschilow"43; er sucht bald den Ignoranten Kautsky*, bald den Ignoranten Engels zu vernichten, indem er sich einfach auf „gelehrte" Namen beruft! Das Unglück will nur, daß alle die von Herrn Tschernow genannten Autoritäten die nämlichen Neukantianer sind, von denen Engels auf derselben Seile seines „L. Feuerbach" als von theoretischen Reaktionären spricht, die sich bemühen, den Leichnam der längst widerlegten Lehren von Kant und Hume neu zu beleben. Der brave Herr Tschernow begriff nicht, daß Engels gerade die (für den Machismus) maßgebenden Wirrköpfe von Professoren mit seiner Betrachtung widerlegt!
Nach einem Hinweis darauf, daß Hegel bereits das „Entscheidende" zur Widerlegung von Hume und Kant gesagt hat und daß Feuerbach Hegels Argumenten neue hinzufügte, die mehr geistreich als tief waren, fährt Engels fort:
„Die schlagendste Widerlegung dieser wie aller andern philosophischen [Schrullen] ist die Praxis, nämlich das Experiment und die Industrie. Wenn wir die Richtigkeit unsrer Auffassung eines Naturvorgangs beweisen können, indem wir ihn selbst machen, ihn aus seinen Bedingungen erzeugen, ihn obendrein unsern Zwecken dienstbar werden lassen, so ist es mit dem Kantschen [unfaßbaren]" (dieses wichtige Wort ist sowohl in Plechanows als auch in Herrn W. Tschernows Übersetzung weggelassen) „ ,Ding an sich' zu Ende. Die im pflanzlichen und tierischen Körper erzeugten chemischen Stoffe blieben solche ,Dinge an sich', bis die organische Chemie sie einen nach dem andern darzustellen anfing; damit wurde das ,Ding an sich' ein ,Ding für uns', wie z. B. der Farbstoff des Krapps, das Alizarin, das wir nicht mehr auf dem Felde in den Krappwurzeln wachsen lassen, sondern aus Kohlenteer weit wohlfeiler und einfacher herstellen." (S. 16 des genannten Werkes.)44
Herr W. Tschernow gerät beim Zitieren dieser Betrachtung vollends aus dem Häuschen und vernichtet den armen Engels nun vollständig. Man höre: „Daß man aus Kohlenteer das Alizarin ,wohlfeiler und einfacher' herstellen kann, wird natürlich keinen Neukantianer in Staunen versetzen. Daß man aber zusammen mit dem Alizarin aus demselben Kohlenteer auf ebenso wohlfeile Art die Widerlegung des ,Dinges an sich' herstellen kann,
* „Die Agrarfrage" von W. Iljin, Teil 1, St. Petersburg 1908, S. 195. (Siehe W.I. Lenin, Werke, Bd. 5, S. 147. Die Red.)
das dürfte allerdings nicht allein für die Neukantianer eine bemerkenswerte und unerhörte Entdeckung sein."
„Engels scheint, nachdem er erfahren hat, daß nach Kant das ,Ding an sich' nicht erkennbar ist, dieses Theorem umgekehrt und sich dafür entschieden zu haben, daß alles Nicht-Erkannte ein Ding an sich sei..." (S. 33.)
Hören Sie, Herr Machist: Lügen Sie, aber halten Sie wenigstens Maß! Denn Sie entstellen ja vor aller Augen gerade das Zitat aus Engels, das Sie „verreißen" möchten, ohne auch nur verstanden zu haben, wovon hier eigentlich die Rede ist!
Erstens ist es falsch, daß Engels „die Widerlegung des Dinges an sich herstellt". Engels hat klipp und klar gesagt, daß er das Kantsche unfaßbare (oder unerkennbare) Ding an sich widerlegt. Herr Tschernow verdreht Engels' materialistische Auffassung von der von unserem Bewußtsein unabhängigen Existenz der Dinge. Zweitens, wenn Kants Theorem lautet, daß das Ding an sich nicht erkennbar ist, so würde das „umgekehrte" Theorem lauten: Das Nicht-Erkennbare ist das Ding an sich. Herr Tschernow aber unterschob an Stelle des Nicht-Erkennbaren das Nicht-Erkannte, ohne zu verstehen, daß er durch diese Unterstellung wiederum die materialistische Auffassung von Engels verdreht und verfälscht hat!
Herr W. Tschernow ist von den Reaktionären der offiziellen Philosophie, von denen er sich leiten läßt, dermaßen irregemacht worden, daß er anfing, gegen Engels zu zetern, ohne das angeführte Beispiel auch nur im mindesten verstanden zu haben. Wir wollen versuchen, dem Vertreter des Machismus zu erklären, worum es sich hier handelt.
Engels spricht es klipp und klar aus, daß er sich gegen Hume und Kant zugleich wendet. Bei Hume ist aber von irgendwelchen „unerkennbaren Dingen an sich" gar nicht die Rede. Was ist diesen beiden Philosophen denn gemeinsam? Daß sie die „Erscheinungen" prinzipiell abgrenzen von dem, was erscheint, die Empfindung von dem, was empfunden wird, das Ding für uns von dem „Ding an sich"; wobei Hume von dem „Ding an sich" nichts wissen will, schon den Gedanken daran für philosophisch unzulässig, für „Metaphysik" hält (wie sich die Anhänger Humes und Kants ausdrücken); Kant hingegen nimmt die Existenz des „Dinges an sich" an, erklärt es aber für „unerkennbar", für prinzipiell verschieden von der Erscheinung, einer prinzipiell anderen Sphäre angehörend, der
Sphäre des „[Jenseits]", die der Erkenntnis unzugänglich ist, aber dem Glauben offenbart wird.
Was ist das Wesentliche an dem Einwand von Engelsß? Gestern wußten wir noch nicht, daß im Kohlenteer Alizarin existiert, heute haben wir es erfahren.45 Es fragt sich, hat das Alizarin auch gestern im Kohlenteer existiert?
Natürlich war es da. Jeder Zweifel daran wäre ein Hohn auf die moderne Naturwissenschaft.
Wenn dem aber so ist, so lassen sich daraus drei wichtige erkenntnis-thenretische Schlußfolgerungen ableiten:
1. Die Dinge existieren unabhängig von unserem Bewußtsein; unabhängig von unserer Empfindung, außer uns; denn es ist unbestreitbar daß Alizarin auch gestern im Kohlenteer existierte, und es ist ebenso unbestreitbar, daß wir gestern von dieser Existenz nichts wußten und keinerlei Empfindungen von diesem Alizarin hatten.
2. Zwischen der Erscheinung und dem Ding an sich gibt es absolut keinen prinzipiellen Unterschied, und es kann einen solchen nicht geben. Einen Unterschied gibt es nur zwischen Erkanntem und noch nicht Erkanntem. Die philosophischen Spitzfindigkeiten über besondere Grenzen zwischen dem einen und dem ändern, darüber, daß das Ding an sich „jenseits" der Erscheinungen liege (Kant) oder daß man sich von der Frage nach der Welt, die in diesem oder jenem Teil noch nicht erkannt ist, aber doch außer uns existiert, durch eine philosophische Scheidewand abgrenzen kann und abgrenzen muß (Hume) - das alles ist purer Unsinn, eine [Schrulle], ein Hirngespinst.
3. In der Erkenntnistheorie muß man ebenso wie auf allen anderen Gebieten der Wissenschaft, dialektisch denken d. h, unsere Erkenntnis nicht für etwas Fertiges und Unveränderliches halten, sondern untersuchen,auf welche Weise das Wissen aus Nichtwissen entsteht, wie unvollkommenes nicht exaktes Wissen vollkommener wird.
Hat man sich einmal auf den Standpunkt gestellt, daß sich die menschliche Erkenntnis aus dem Nichtwissen entwickelt, so wird man merken, daß Millionen Beispiele, die ebenso einfach sind wie die Entdeckung des Alizarins im Kohlenteer, Millionen von Beobachtungen nicht nur aus der Geschichte der Wissenschaft und Technik, sondern auch aus jedermanns täglichem Leben, dem Menschen die Verwandlung der „Dinge an sich"
in „Dinge für uns" zeigen, das Entstehen der „Erscheinungen", wenn unsere Sinnesorgane einen äußeren Reiz durch diesen oder jenen Gegenstand erfahren, und das Vergehen der „Erscheinungen", wenn irgendein Hindernis die Möglichkeit der Einwirkung eines - eindeutig für uns existierenden - Gegenstandes auf unsere Sinnesorgane beseitigte. Die einzige und unausweichliche Schlußfolgerung daraus - eine Schlußfolgerung, die alle Menschen in der lebendigen menschlichen Praxis ziehen und die der Materialismus seiner Erkenntnistheorie bewußt zugrunde legt - besteht dani, daß außerhalb und unabhängig von uns Gegenstande, Dinge, Körper existieren, daß unsere Empfindungen Abbilder der Außenwelt sind. Machs entgegengesetzte Theorie (die Körper seien Empfindungskomplexe) ist kläglicher idealistischer Unsinn. Herr Tschernow aber bekundete durch seine „Analyse" von Engels wieder einmal seine Woroschilowschen Eigenschaften : das einfache Beispiel von Engels erschien ihm „merkwürdig und naiv"! Für Philosophie hält er nur gelahrte Spitzfindigkeiten, ohne imstande zu sein, den professoralen Eklektizismus von der konsequenten materialistischen Erkenntnistheorie zu unterscheiden.
Alle weiteren Betrachtungen des Herrn Tschernow zu untersuchen, ist weder möglich noch notwendig: sie sind ein ebensolcher anmaßender Unsinn (wie etwa die Behauptung, das Atom sei für die Materialisten ein Ding an sich!). Wir erwähnen nur die Behauptung, die zu unserem Thema gehört (und, wie es scheint, manche Leute irregemacht hat), daß zwischen Marx und Engels angeblich ein Unterschied bestehe. Es handelt sich um die zweite These von Marx über Feuerbach und um die Plechanowsche Übersetzung des Wortes [Diesseitigkeit].
Hier diese zweite These:
„Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, d. h. die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines Denkens, das sich von der Praxis isoliert, ist eine rein scholastische Frage."46
Bei Plechanow steht statt „докзать посюсторонность мышленни" (wörtliche Übersetzung [von: die Diesseitigkeit des Denkens beweisen. Der Übers.]): beweisen, daß das Denken „не останавливаестя по сю сторону явлений“ [nicht diesseits der Erscheinungen stehen bleibt. Der Übers.].
Und Herr W. Tschernow wettert: „Der Gegensatz zwischen Engels und Marx ist außerordentlich einfach beseitigt", „es kommt so heraus, als ob Marx, ebenso wie Engels, die Erkennbarkeit der Dinge an sich und die Jenseitigkeit des Denkens behauptet hätte." (Zit. Werk, 34, Fußnote.)
Laßt euch nur einmal mit einem Woroschilow ein, der mit jedem Satz die Konfusion noch größer macht! Es zeugt von Ignoranz, Herr Wiktor Tschernow, wenn Ihnen nicht bekannt ist, daß alle Materialisten auf dem Standpunkt der Erkennbarkeit der Dinge an sich stehen. Es zeugt von Ignoranz, Herr Wiktor Tschernow, oder von grenzenloser Liederlichkeit, wenn Sie gleich den ersten Satz der These überspringen, ohne zu bedenken, daß die „[gegenständliche Wahrheit]" des Denkens nichts anderes bedeutet als die Existenz der Gegenstände (= „Dinge an sich"), die durch das Denken richtig widergespiegelt werden. Es zeugt von Unbildung, Herr Wiktor Tschernow, wenn Sie behaupten, daß aus der Plechanowschen Wiedergabe (Plechanow hat eine Wiedergabe, keine Übersetzung gebracht) „hervorgehe", daß Marx die Jenseitigkeit des Denkens verteidige. Denn „diesseits der Erscheinungen" lassen nur die Anhänger von Hume und Kant das menschliche Denken stehen. Für alle Materialisten, auch für die des 17. Jahrhunderts, die vom Bischof Berkeley vernichtet werden (siehe „Einleitung"), sind die „Erscheinungen" „Dinge für uns" oder Kopien der „Objekte an sich". Selbstverständlich ist die freie Wiedergabe durch Plechanow nicht verbindlich für Leute, die Marx unmittelbar kennen wollen. Es ist aber unbedingt Pflicht, sich in die Betrachtungen von Marx hineinzudenken, statt auf Woroschilowsche Art darüber herzufallen.
Es ist interessant festzustellen: Während Leute, die sich Sozialisten nennen, nicht gewillt oder nicht fähig sind, sich in die „Thesen" von Marx hineinzudenken, legen bürgerliche Schriftsteller, Philosophen vom Fach, mitunter eine größere Gewissenhaftigkeit an den Tag. Ich kenne einen solchen Schriftsteller, der Feuerbachs Philosophie studierte und dabei die „Thesen" von Marx untersuchte, und zwar ist dies Albert Levy, der das dritte Kapitel im zweiten Teil seines Buches über Feuerbach der Untersuchung von Feuerbachs Einfluß auf Marx gewidmet hat.* Wir gehen nicht
* Albert Lévy, „La philosophie de Feuerbach et son influence sur la littérature allemande" [Die Philosophie Feuerbachs und ihr Einfluß auf die deutsche Literatur], Paris 1904, pp. 249-338: Feuerbachs Einfluß auf Marx; pp. 290 bis 298: Analyse der „Thesen".
weiter darauf ein, ob Lévy Feuerbach überall richtig interpretiert und wie er Marx vom landläufigen bürgerlichen Standpunkt aus kritisiert, wir wollen hier nur Albert Levys Urteil über den philosophischen Inhalt der berühmten „Thesen" von Marx anführen, ober die erste These sagt A. Levy: „Marx nimmt einerseits mit allem bisherigen Materialismus und mit Feuerbach an, daß unseren Vorstellungen von den Dingen reale und unterscheidbare (selbständige, distincts) Objekte außer uns entsprechen ..."
Wie der Leser sieht, ist für Albert Lévy die Grundeinstellung nicht nur des marxistischen, sondern jedes Materialismus, „alles bisherigen" Materialismus von Anfang an klar, nämlich: Anerkennung der realen Objekte außer uns, welchen unsere Vorstellungen „entsprechen". Dieses Abc, das sich auf allen Materialismus überhaupt bezieht, ist nur den russischen Machisten unbekannt. Lévy fährt fort:
„... Anderseits bedauert Marx, daß der Materialismus dem Idealismus die Sorge überlassen hat, die Bedeutung der aktiven Kräfte" (d. h. der menschlichen Praxis) „zu bewerten. Nach der Meinung von Marx ist es notwendig, diese aktiven Kräfte dem Idealismus zu entreißen, um sie in das materialistische System einzufügen, wobei man natürlich diesen aktiven Kräften einen realen und sinnlichen Charakter geben müßte, den der Idealismus ihnen nicht zuerkennen konnte. Der Gedankengang von Marx ist also folgender: Ebenso wie unseren Vorstellungen reale Objekte außer uns entsprechen, ebenso entspricht unserer phänomenalen Tätigkeit eine reale Tätigkeit außer uns, eine Tätigkeit der Dinge; in diesem Sinne nimmt die Menschheit Anteil am Absoluten nicht nur durch die theoretische Erkenntnis, sondern auch durch die praktische Tätigkeit; und die ganze menschliche Tätigkeit erwirbt auf diese Art eine Würde, eine Dignität, die ihr erlaubt, an der Seite der Theorie zu schreiten: die revolutionäre Tat hat von nun an metaphysische Bedeutung ..."
A. Lévy ist Professor. Ein richtiggehender Professor aber muß ja die Materialisten Metaphysiker schimpfen. Für die Idealisten, Humeisten und Kantianer mit Professorentitel ist jeder Materialismus „Metaphysik", denn er sieht hinter dem Phänomen (der Erscheinung, dem Ding für uns) das Reale außer uns. Daher hat A. Lévy im wesentlichen recht, wenn er meint, daß für Marx der „phänomenalen Tätigkeit" der Menschheit eine „Tätigkeit der Dinge" entspricht, d. h., die menschliche Praxis hat nicht
nur eine phänomenale (im Humeschen und Kantschen Sinn des Wortes), sondern auch eine objektiv-reale Bedeutung. Das Kriterium der Praxis hat, wie wir an geeigneter Stelle zeigen werden (§ 6), bei Mach und bei Marx ganz verschiedene Bedeutung. „Die Menschheit nimmt Anteil am Absoluten", das bedeutet: Die menschliche Erkenntnis spiegelt die absolute Wahrheit wider (siehe weiter unten, § 5), durch die menschliche Praxis wird die Richtigkeit unserer Vorstellungen überprüft und das in ihnen bestätigt, was der absoluten Wahrheit entspricht. A. Levy fährt fort:
„... An diesem Punkt angelangt, stößt Marx natürlich auf die Einwände der Kritik. Er hat die Existenz von Dingen an sich zugegeben, denen gegenüber unsere Theorie als menschliche Übersetzung erscheint; es ist ihm nicht möglich, dem gewöhnlichen Einwand auszuweichen: was gibt euch denn die Gewähr für die Treue der Übersetzung? Was liefert denn den Beweis, daß der menschliche Gedanke euch eine objektive Wahrheit gibt? Auf diesen Einwand antwortet Marx in der zweiten These." (P.291.)
Der Leser sieht, A. Lévy bezweifelt keinen Augenblick, daß Marx die Existenz der Dinge an sich anerkennt!
Datum der letzten Änderung : Jena, den: 15.08.2013