Vom logischen Verstandesgebrauch überhaupt | Inhalt | Von den reinen Verstandeshegriffen oder Kategorien
LEITFADEN DER ENTDECKUNG ALLER REINEN VERSTANDESBEGRIFFE
Zweiter Abschnitt
Von der logischen Funktion des Verstandes in Urteilen
Wenn wir von allem Inhalt eines Urteils überhaupt abstrahieren und nur auf die bloße Verstandesform darin achtgeben, so finden wir, daß die Funktion des Denkens in ihm unter vier Titel gebracht werden könne, von denen jeder drei Momente unter sich enthält. Sie können füglich wie folgt vorgestellt werden:
- 1. Quantität der Urteile: Allgemeine, Besondere, Einzelne.
- 2. Qualität: Bejahende, Verneinende, Unendliche.
- 3. Relation; Kategorische, Hypothetische, Disjunktive.
- 4. Modalität: Problematische, Assertorische, Apodiktische.
1. Die Logiker sagen mit Recht, daß man beim Gebrauch der Urteile in Vernunftschlüssen die einzelnen Urteile gleich den allgemeinen behandeln könne. Denn eben darum, weil sie gar keinen Umfang haben, kann ihr Prädikat nicht bloß auf einiges dessen, was unter dem Begriff des Subjekts enthalten ist, gezogen, von einigem aber ausgenommen werden. Es gilt also von jenem
Begriff ohne Ausnahme, gleich als wenn er ein gemeingültiger Begriff wäre, der einen Umfang hätte, von dessen ganzer Bedeutung das Prädikat gelte. Vergleichen wir dagegen ein einzelnes Urteil mit einem gemeingültigen bloß als Erkenntnis der Größe nach, so verhält sie sich zu diesem wie Einheit zur Unendlichkeit und ist also an sich selbst davon wesentlich unterschieden. Also wenn ich ein einzelnes Urteil (judicium singulare) nicht bloß nach seiner inneren Gültigkeit, sondern auch als Erkenntnis überhaupt nach der Größe, die es in Vergleich mit anderen Erkenntnissen hat, schätze, so ist es allerdings von gemeingültigen Urteilen (judicia communia) unterschieden und verdient in einer vollständigen Tafel der Momente des Denkens überhaupt eine besondere Stelle (obzwar freilich nicht in der bloß auf den Gebrauch der Urteile untereinander eingeschränkten Logik).
2. Ebenso müssen in einer transzendentalen Logik unendliche Urteile von bejahenden noch unterschieden werden, wenngleich sie in der allgemeinen Logik jenen mit Recht beigezählt sind und kein besonderes Glied der Einteilung ausmachen. Diese nämlich abstrahiert von allem Inhalt des Prädikats (obgleich es verneinend ist) und sieht nur darauf, ob dasselbe dem Subjekt beigelegt oder ihm entgegengesetzt werde. Jene aber betrachtet das Urteil auch nach dem Wert oder Inhalt dieser logischen Bejahung durch ein bloß verneinendes Prädikat und was diese in Ansehung der gesamten Erkenntnis für einen Gewinn verschafft. Hätte ich von der Seele gesagt, sie ist nicht sterblich, so hätte ich durch ein verneinendes Urteil wenigstens einen Irrtum abgehalten. Nun habe ich durch den Satz »Die Seele ist nicht sterblich« zwar der logischen Form nach wirklich bejaht, indem ich die Seele in den unbeschränkten Umfang der nichtsterbenden Wesen setze. Weil nun von dem ganzen Umfang möglicher Wesen das Sterbliche einen Teil enthält, das Nichtsterbliche aber den anderen, so ist durch meinen Satz nichts anderes gesagt, als daß die Seele eine von der unendlichen Menge Dinge sei, die übrigbleiben, wenn ich das Sterbliche insgesamt wegnehme. Dadurch aber wird nur die unendliche Sphäre alles Möglichen insoweit beschränkt, daß das Sterbliche davon abgetrennt und in den übrigen Raum ihres Umfangs die Seele gesetzt wird. Dieser Raum bleibt aber bei dieser Ausnahme noch immer unendlich, und es können noch mehrere Teile davon weggenommen werden, ohne daß darum der Begriff von der Seele im mindesten wächst und bejahend bestimmt wird. Diese unendlichen Urteile also in Ansehung des logischen Um-
fangs sind wirklich bloß beschränkend in Ansehung des Inhalts der Erkenntnis überhaupt, und insofern müssen sie in der transzendentalen Tafel aller Momente des Denkens in den Urteilen nicht übergangen werden, weil die hierbei ausgeübte Funktion des Verstandes vielleicht in dem Feld seiner reinen Erkenntnis a priori wichtig sein kann.
3. Alle Verhältnisse des Denkens in Urteilen sind die
- a) des Prädikats zum Subjekt,
- b) des Grundes zur Folge,
- c) der eingeteilten Erkenntnis und der gesammelten Glieder der Einteilung untereinander.
4. Die Modalität der Urteile ist eine ihrer ganz besonderen Funktionen, die das Unterscheidende an sich hat, daß sie nichts zum Inhalt des Urteils beiträgt (denn außer Größe, Qualität und Verhältnis ist nichts mehr, was den Inhalt eines Urteils ausmachte), sondern nur den Wert der Kopula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht. Problematische Urteile sind solche, wo man das Bejahen oder Verneinen als bloß möglich (beliebig) annimmt, assertorische, da es als wirklich (wahr) betrachtet wird, apodiktische, in denen man es als notwendig ansieht6. So sind die beiden Urteile, deren Verhältnis das hypothetische Urteil ausmacht (antecedens und consequens), imgleichen in deren Wechselwirkung das Disjunktive besteht (Glieder der Einteilung), insgesamt nur problematisch. In dem obigen Beispiel wird der Satz »Es ist eine vollkommene Gerechtigkeit da« nicht assertorisch gesagt, sondern nur als ein beliebiges Urteil, wovon es möglich ist, daß jemand es annehme, gedacht, und nur die Konsequenz ist assertorisch. Daher können solche Urteile auch offenbar falsch und doch, problematisch genommen, Bedingungen der Erkenntnis der Wahrheit sein. So ist das Urteil »Die Welt ist durch blinden Zufall da« in dem disjunktiven Urteil nur von problematischer Bedeutung, nämlich daß jemand diesen Satz etwa auf einen Augenblick annehmen möge, und dient doch (wie die Verzeichnung des falschen Weges, unter der Zahl aller derer, die man nehmen kann), den wahren zu finden. Der problematische Satz ist also derjenige, der nur logische Möglichkeit (die nicht objektiv ist) ausdrückt, d. i. eine freie Wahl einen solchen Satz gelten zu lassen, eine bloß willkürliche Aufnehmung desselben in den Verstand. Der assertorische sagt von logischer Wirklichkeit oder Wahrheit, wie etwa in einem hypothetischen Vernunftschluß das Antecedens im Obersatz problematisch, im Untersatz assertorisch vorkommt, und zeigt an, daß der Satz mit dem Verstand nach dessen Gesetzen schon verbunden sei; der apodiktische Satz denkt sich den assertorischen durch diese Gesetze des Verstandes selbst bestimmt und daher a priori behauptend und drückt auf solche Weise logische Notwendigkeit aus. Weil nun hier alles sich gradweise dem Verstand einverleibt, so daß man zuvor etwas problematisch urteilt, darauf auch wohl es assertorisch als wahr annimmt, endlich als unzertrennlich mit dem Verstand verbunden, d. i. als notwendig und apodiktisch behauptet, so kann man diese drei Funktionen der Modalität auch soviel Momente des Denkens überhaupt nennen.
Datum der letzten Änderung : Jena, den : 01.09.2014