8. Wesen und Bedeutung des „physikalischen" Idealismus | Inhalt | 2.Wie Bogdanow Marx korrigiert und „weiterentwickelt"

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KAPITEL VI
EMPIRIOKRITIZISMUS UND HISTORISCHER MATERIALISMUS

Die russischen Machsten teilen sich, wie wir bereits gesehen haben, in zwei Lager; Herr W. Tschemow und die Mitarbeiter des „Russkoje Bogatstwo"109 sind wirkliche und konsequente Gegner des dialektischen Materialismus sowohl in der Philosophie als auch in der Geschichte. Die andere, uns hier am meisten interessierende Gesellschaft von Machisten, die Marxisten sein möchten, befleißigt sich auf jede Art und Weise, den Lesern zu versichern, der Machismus sei mit dem historischen Materialismus von Marx und Engels vereinbar. Diese Versicherungen bleiben allerdings größtenteils auch bloß Versicherungen: kein einziger Machist, der Marxist sein möchte, hat auch nur den geringsten Versuch unternommen, die wirklichen Tendenzen der Begründer des Empiriokritizismus auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften einigermaßen systematisch darzustellen. Wir wollen kurz bei dieser Frage verweilen und wenden uns zunächst den Erklärungen der deutschen Empiriokritiker, soweit sie in der Literatur vorzufinden sind, und dann denen ihrer russischen Schüler zu.

1. Streifzüge der deutschen Empiriokritiker in das Gebiet der Gesellschiaftswissenschaften

Im Jahre 1895, noch zu Lebzeiten von R. Avenarius, erschien in der von ihm herausgegebenen philosophischen Zeitschrift ein Aufsatz seines Schülers F. Blei: „Die Metaphysik in der Nationalökonomie".* Alle Lehrmeister des Empiriokritizismus führen Krieg gegen die „Metaphysik"


* „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie", 1895, Bd. XIX, 7. F. Blei, „Die Metaphysik in der Nationalökonomie", S. 378-390.

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nicht nur des offenen, bewußten philosophischen Materialismus, sondern auch der Naturwissenschaft, die spontan auf dem Standpunkt der materialistischen Erkenntnistheorie steht. Der Schüler erklärt der Metaphysik in der politischen Ökonomie den Krieg. Dieser Krieg richtet sich gegen die verschiedensten Schulen der politischen Ökonomie, uns interessiert jedoch ausschließlich der Charakter der empiriokritischen Argumentation gegen die Schule von Marx und Engels.

„Der Zweck der folgenden Untersuchung", schreibt F. Blei, „ist, zu zeigen, daß alle bisherige Nationalökonomie in ihren Versuchen, die Erscheinungen des wirtschaftlichen Lebens zu erklären, mit metaphysischen Voraussetzungen operiert; daß sie die ,Gesetze' der Wirtschaft aus der ,Natur' derselben , ableitet', zu welchen ,Gesetzen' der Mensch nur als ein Zufälliges tritt... Mit allen ihren bisherigen Theorien steht die Nationalökonomie auf metaphysischem Boden, alle ihre Theorien sind unbiologisch und deshalb unwissenschaftlich und wertlos für die Erkenntnis ... Die Theoretiker wissen nicht, worauf sie ihre Theorien bauen, sie wissen nicht, wes Bodens Frucht diese sind. Sie dünken sich die voraussetzungslosesten Realisten, da, sie sich ja mit den so ,[nüchternen]', praktischen' und [sinnfälligen]', wirtschaftlichen Erscheinungen befassen ... Und sie haben auch alle mit manchen Richtungen in der Physiologie die verwandtschaftliche Ähnlichkeit, die nur immer ein gleiches Elternpaar - hier die Metaphysik und die Spekulation - ihren Kindern, den Physiologen und Ökonomen, geben kann. Die einen von den letzteren analysieren die ,Erscheinungen' der ,Wirtschaft'" (Avenarius und seine Schule setzen gewöhnliche Worte in Anführungszeichen und wollen damit zeigen, daß sie, die wahrhaften Philosophen, die ganze „Metaphysik" eines derartig vulgären, durch die „erkenntnistheoretische Analyse" nicht gereinigten Wortgebrauchs eben durchschauen), „ohne das auf diesem Wege [Gefundene] zu dem Verhalten der Individuen in Beziehung zu setzen: die Physiologen schließen das Verhalten des Individuums als [Wirkungen der Seele]' von ihren Untersuchungen aus - die Ökonomen dieser Richtung erklären das Verhalten der Individuen als [eine Negligible] in Hinsicht auf die ,immanenten Gesetze der Wirtschaft'." (378/379.) „Die Theorie hat bei Marx an konstruierten Vorgängen ,wirtschaftliche Gesetze' konstatiert, wobei die ,Gesetze' im [Initialabschnitt] der abhängigen Vitalreihe standen, die wirtschaftlichen Vorgänge im [Finalabschnitt]... Die ,Wirt-

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schaft' wurde den Ökonomen zu einer transzendentalen Kategorie, in welcher sie die ,Gesetze' fanden, welche sie finden wollten: die ,Gesetze' des ,Kapitals' und der ,Arbeit', der ,Rente', des ,Lohnes', des ,Profites'. Der Mensch wurde bei den Ökonomen zu einem platonischen Begriff des ,Kapitalisten', zu einem solchen des ,Arbeiters' usw. Der Sozialismus gab dem ,Kapitalisten' noch den Charakter ,profitwütig', der Liberalismus dem Arbeiter den Charakter ,begehrlich' - und beide Charaktere wurden ferner noch als aus dem gesetzmäßigen Wirken des Kapitals' erklärt." (381/382.)

„Marx ging bereits mit einer sozialistischen Weltanschauung an dieses Studium" (des französischen Sozialismus und der politischen Ökonomie) „heran, und sein Erkenntnisziel war, dieser seiner Weltanschauung die ,theoretische Begründung' zu geben zur ,Sicherung' seines Anfangswertes. Er fand bei Ricardo dieses Wertgesetz ... Diese Konsequenzen der französischen Sozialisten aus Ricardo konnten Marx zur ,Sicherung' seines in eine Vitaldifferenz gebrachten E-Wertes ,Weltanschauung' nicht genügen, denn sie bildeten bereits als ,Entrüstung über den Diebstahl an den Arbeitern* u. ä. einen Bestandteil in dem Inhalt seines Anfangswertes. Die Konsequenzen wurden als ,ökonomisch formell falsch' verworfen, denn sie sind ,einfach eine Anwendung der Moral auf die Ökonomie'. ,Was aber ökonomisch formell falsch, kann darum doch weltgeschichtlich richtig sein. Erklärt das sittliche Bewußtsem der Masse eine ökonomische Tatsache für unrecht, so ist das ein Beweis, daß die Tatsache selbst sich schon überlebt hat, daß andre ökonomische Tatsachen eingetreten sind, kraft deren jene unerträglich und unhaltbar geworden sind. Hinter der formellen ökonomischen Unrichtigkeit kann also ein sehr wahrer ökonomischer Inhalt verborgen sein.'" (Engels im Vorwort zum „Elend der Philosophie".)

„In dem oben Zitierten", fährt F. Blei fort, nachdem er das Zitat aus Engels angeführt hat, „ist der [Medialabschnitt] der Abhängigen [abgehoben]" (ein technischer Terminus bei Avenarius im Sinne von: ins Bewußtsein gekommen, hervorgetreten), „der uns hier beschäftigt. Nach der ,Erkenntnis', daß hinter dem ,sittlichen Bewußtsein des Unrechtes' eine ,ökonomische Tatsache' verborgen sein müsse, setzt der [Finalabschnitt]..." (die Theorie von Marx ist eine Aussage, d. h. E-Wert, d. h. Vitaldifferenz, die drei Stadien, drei Abschnitte durchläuft: Anfang, Mitte, Ende, [Initialabschnitt], [Medialabschnitt], [Finalabschnitt]) „... ein, die ,ökonomische Tatsache' zu ,erkennen'. Oder anders: es gilt nun, den An-

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fangswert ,Weltanschauung' in den ,ökonomischen Tatsachen' ,wiederzufinden' zur ,Sicherung' des Anfangswertes. - Diese bestimmte Variation der Abhängigen enthält schon die Marxsche Metaphysik, gleichgiltig, wie das ,Erkannte' im [Finalabschnitt] auftritt. Die ,sozialistische Weltanschauung' als der independente E-Wert, ,absolute Wahrheit', ,begründet' sich ,nachher' durch eine ,spezielle' Erkenntnistheorie - nämlich das ökonomische System Marx' und die materialistische Geschichtstheorie ... Mit Hilfe dieses Mehrwertbegriffes findet nun das ,subjektiv' ,Wahre' der Marxschen Weltanschauung seine ,objektive Wahrheit' in der Erkenntnistheorie der ,ökonomischen Kategorien' - die Sicherung des Anfangswertes ist vollzogen, die Metaphysik hat ihre nachträgliche Erkenntniskritik erhalten." (384-386.)

Der Leser ist wahrscheinlich sehr ungehalten über uns, weil wir diesen unglaublich abgeschmackten Galimathias, diese quasigelehrte Hanswurstiade im Gewande Avenariusscher Terminologie so ausführlich zitieren. Doch - [wer den Feind will verstehen, muß in Feindes Lande gehen]110. Und die philosophische Zeitschrift von R. Avenarius ist für die Marxisten wahrhaftig Feindesland. Wir bitten daher den Leser, für einen Augenblick den berechtigten Widerwillen gegen die Hanswürste der bürgerlichen Wissenschaft zu unterdrücken und die Argumentation des Schülers und Mitarbeiters von Avenarius zu analysieren.

Das erste Argument; Marx sei ein „Metaphysiker", der die erkenntnis­theoretische „Kritik der Begriffe" nicht erfaßt, keine allgemeine Erkenntnistheorie ausgearbeitet und den Materialismus ohne weiteres in seine „spezielle Erkenntnistheorie" hineingeschoben habe.

Dieses Argument enthält nichts, was Blei als sein persönliches und ausschließliches Eigentum beanspruchen könnte. Wir haben bereits Dutzende und Hunderte von Malen gesehen, wie sämtliche Begründer des Empiriokritizismus und sämtliche russischen Machisten den Materialismus der „Metaphysik" bezichtigen, d. h., genauer ausgedrückt, wie sie die abgegriffenen Argumente der Kantianer, Humeisten, Idealisten gegen die materialistische „Metaphysik" wiederholen.

Das zweite Argument: der Marxismus sei ebenso metaphysisch wie die Naturwissenschaft (die Physiologie). Auch an diesem Argument Ist nicht Blei, sondern sind Mach und Avenarius „schuld", denn sie waren es, die der „naturwissenschaftlichen Metaphysik" den Krieg ansagten, wobei sie

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mit diesem Namen jene spontan-materialistische Erkenntnistheorie bezeichneten, an die sich (nach ihrem eigenen Eingeständnis und nach dem Urteil aller, die sich in der Frage einigermaßen auskennen) die überwiegende Mehrzahl der Naturforscher hält.

Das dritte Argument: der Marxismus erkläre das „Individuum" für eine Größe, die ohne Bedeutung ist, für eine quantité négligeable, erkläre den Menschen für ein „Zufälliges", unterwerfe ihn irgendwelchen „immanenten Gesetzen der Wirtschaft", gebe keine Analyse [des Gefundenen] - d. h. dessen, was wir vorfinden, was uns gegeben ist, usw. — Dieses Argument wiederholt von Anfang bis zu Ende den Ideenkreis der empiriokritischen „Prinzipialkoordination", d. h. der idealistisälen Schrulle in der Theorie von Avenarius. Darin hat Blei vollkommen recht, daß man bei Marx und Engels auch nicht die geringste Andeutung über die Zulassung eines derartigen idealistischen Unsinns finden kann und daß man vom Standpunkt dieses Unsinns den Marxismus von Anfang bis zu Ende, bis in die Wurzel seiner philosophischen Grundthesen unvermeidlich verwerfen muß.

Das vierte Argument: die Theorie von Marx sei „unbiologisch", sie wolle von keinerlei „Vitaldifferenzen" und ähnlichen Spielereien mit biologischen Termini, die die „Wissenschaft" des reaktionären Professors Avenarius ausmachen, etwas wissen. Das Argument Bleis ist vom Standpunkt des Machismus aus richtig, denn die Kluft zwischen der Theorie von Marx und den „biologischen" Tändeleien des Avenarius wird tatsächlich sofort augenfällig. Wir werden gleich sehen, wie die russischen Machisten, die Marxisten sein möchten, in Wirklichkeit in Bleis Fußtapfen getreten sind.

Das fünfte Argument: die Parteilichkeit, die Voreingenommenheit der Marxschen Theorie, seine vorgefaßte Lösung. Der ganze Empiriokritizismus, und nicht nur Blei allein, erhebt den Anspruch auf Unparteilichkeit sowohl in der Philosophie als auch in der Gesellschaftswissenschaft. Weder Sozialismus noch Liberalismus. Keine Abgrenzung zwischen den unversöhnlichen Grundrichtungen in der Philosophie, zwischen Idealismus und Materialismus, sondern das Bestreben, sich über sie zu erheben. Wir haben diese Tendenz des Machismus an einer langen Reihe erkenntnistheoretischer Fragen verfolgt und dürfen uns nicht wundern, wenn wir ihr in der Soziologie begegnen.

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Das sechste „Argument": die Verspottung der „objektiven" Wahrheit. Blei hat sofort herausgespürt, und zwar ganz mit Recht herausgespürt, daß der historische Materialismus und die gesamte ökonomische Lehre von Marx durch und durch von der Anerkennung der objektiven Wahrheit durchdrungen sind. Und Blei hat die Tendenzen der Doktrin von Mach und Avenarius richtig ausgedrückt, als er den Marxismus gerade wegen der Idee der objektiven Wahrheit „von der Schwelle aus", wie man so sagt, zurückwies; als er von vornherein erklärte, daß in Wirklichkeit hinter der Lehre des Marxismus weiter nichts stecke als die „subjektiven" Ansichten von Marx.

Und sollten unsere Machisten sich von Blei abkehren (und sie werden sich bestimmt von ihm abkehren), so werden wir ihnen sagen: man soll nicht den Spiegel schelten, wenn ... usw. Blei ist ein Spiegel, der die Tendenzen des Empiriokritizismus richtig widerspiegelt, während die Abkehr unserer Machisten lediglich von ihren guten Absichten zeugt - und von ihrem absurden eklektischen Bestreben, Marx mit Avenarius zu vereinen.
Von Blei wenden wir uns Petzoldt zu. Ist der erste einfach ein Schüler, so wird der zweite von so hervorragenden Empiriokritikern wie Lessewitsch als Meister angesprochen. Hat Blei die Frage des Marxismus direkt aufgeworfen, so setzt Petzoldt - der sich nicht so weit herabläßt, irgendeinem Marx oder Engels Beachtung zu schenken — die Ansichten des Empiriokritizismus in der Soziologie in positiver Form auseinander und ermöglicht dadurch deren Vergleich mit dem Marxismus.

Der zweite Band der Petzoldtschen „Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung" trägt den Titel: „[Auf dem Wege zum Dauernden]". Die Tendenz zum Dauernden legt der Verfasser seiner Untersuchung zugrunde. „Der [endgültige] Dauerzustand der Menschheit läßt sich nach seiner formalen Seite in Hauptzügen erschließen. Damit gewinnen wir die Grundlagen für die Ethik, die Ästhetik und die formale Erkenntnistheorie." (S. III.) „Die menschliche Entwicklung trägt ihr Ziel in sich", auch sie ist auf einen „[vollkommenen] Dauerzustand" gerichtet. (60.) Die Anzeichen dafür sind zahlreich und mannigfaltig. Zum Beispiel, wie viele von den extremen Radikalen sind mit zunehmendem Alter nicht „klüger", nicht ruhiger geworden? Freilich, diese „vorzeitige Stabilität" (S. 62) ist ein Merkmal des Philisters. Aber bilden denn die Philister nicht die „kompakte Majorität"?. (S. 62.)

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Die Schlußfolgerung unseres Philosophen, von ihm hervorgehoben:
„Das wesentlichste Merkmal aller Ziele unseres Denkens und Schaffens ist die Dauer." (72.) Die Erläuterung: „Viele können nicht einen Schlüssel schief auf dem Tisch liegen, noch weniger ein Bild schief an der Wand hängen sehen .. . Und das brauchen ebensowenig Pedanten zu sein ..." (72.) Sie haben nur ein „Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung sei" (72; hervorgehoben von Petzoldt). Mit einem Wort, „die Tendenz zur Stabilität ist das Trachten nach einem äußersten, seiner Natur nach letzten Zustand" (73). All das ist dem „Die psychische Tendenz zur Stabilität" betitelten fünften Kapitel des zweiten Bandes entnommen. Die Beweise für diese Tendenz sind alle sehr schwerwiegend. Zum Beispiel: „Dem Drang nach einem Äußersten, Höchsten im ursprünglichen räumlichen Sinne folgt zu einem großen Teile der Bergsteiger. Es ist nicht immer nur die Sehnsucht nach weiter Aussicht und die Freude an der körperlichen Übung des Steigens in freier Luft und großer Natur, was nach den Gipfeln drängt, sondern auch der tief in allen organischen Wesen begründete Trieb, so lange in einer einmal eingeschlagenen Richtung der Betätigung zu verharren, bis ein natürliches Ende erreicht ist." (73.) Noch ein Beispiel: Welche Unsummen opfern die Leute, um ihre Briefmarkensammlung vollständig zu machen! „Es kann einem Schwindel erregen, wenn man die Preisliste eines Briefmarkenhändlers . . . durchblättert. Und doch ist eben nichts natürlicher und begreiflicher als dieser Drang zur Stabilität..." (74.)

Diejenigen, die philosophisch nicht gebildet sind, vermögen eben nicht die ganze Tragweite der Prinzipien der Stabilität oder der Denkökonomie zu erfassen. Petzoldt entwickelt den Laien weitschweifig seine „Theorie". „Das Mitleid als Ausdruck für das unmittelbare Bedürfnis nach Dauerzuständen" - das ist der Inhalt des Paragraphen 28 ... „Mitleid ist nicht Wiederholung, Verdoppelung des beobachteten Leids, sondern Leid über dieses Leid . . . Auf diese Unmittelbarkeit des Mitleids ist der größte Nachdruck zu legen. Räumen wir sie ein, so gestehen wir damit auch zu, daß dem Menschen das Wohl anderer ebenso unvermittelt und ursprünglich am Herzen liegen kann wie das eigene, und lehnen damit zugleich jede utilitaristische und eudämonistische Begründung der Sittenlehre ab. Dank ihrer Sehnsucht nach Dauer und Ruhe ist die Menschennatur nicht böse von Grund aus, sondern hilf bereit...

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Die Unmittelbarkeit des Mitleids zeigt sich oft in der Unmittelbarkeit der Hilfe. Der Retter stürzt sich nicht selten ohne Besinnen dem Ertrinkenden nach. Der Anblick des mit dem Tode Ringenden ist ihm unerträglich; er vergißt völlig seine sonstigen Verpflichtungen und setzt vielleicht seine und der Seinen Existenz aufs Spiel, um einen verkommenen Trunkenbold einem unnützen Leben zu erhalten, d. h., das Mitleid kann unter Umständen zu sittlich nicht zu rechtfertigenden Handlungen hinreißen ..." Und mit derartigen unsagbaren Plattheiten sind Dutzende und Hunderte von Seiten der empiriokritischen Philosophie ausgefüllt!

Die Moral wird abgeleitet aus dem Begriff des „ethischen Dauerbestandes" (zweiter Abschnitt des zweiten Bandes: „Die Dauerbestände der Seele", Kap. l, „Vom ethischen Dauerbestande"), „Der Dauerzustand enthält seinem Begriffe nach in keiner seiner Komponenten irgendwelche Änderungsbedingungen seiner selbst. Daraus folgt ohne weiteres, daß er keine Möglichkeiten für den Krieg mehr bergen kann." (202.) Die „Ableitung der wirtschaftlichen und sozialen Gleichheit aus dem Begriff des [endgültigen] Stabilitätszustandes" (213). Nicht von der Religion kommt dieser „Dauerzustand", sondern von der „Wissenschaft". Nicht eine „Majorität" wird ihn verwirklichen, wie die Sozialisten meinen, nicht die Macht der Sozialisten „vermöchte der Menschheit zu helfen" (207) -nein, „in freiem Werden" wird der ideale Zustand entstehen. Ist nicht in der Tat der Kapitalzins im Sinken, steigt nicht fortwährend der Arbeitslohn? (223.) Unrichtig sind alle Behauptungen von „Lohnsklaverei" (229). Den Sklaven durfte man ungestraft die Beine zerschlagen, und heute? Nein, der „sittliche Fortschritt" steht außer Zweifel: man sehe sich doch die Settlementsbewegung in England, die Heilsarmee (230), die „ethischen Gesellschaften" in Deutschland an. Im Namen des „ästhetischen Dauerbestandes" (Kapitel 2 des zweiten Abschnitts) wird die „Romantik" verworfen. Zur Romantik aber gehören sowohl alle Arten der übertreibung des Persönlichen als auch der Idealismus und die Metaphysik, der Okkultismus und der Solipsismus und der Egoismus und die „gewaltsamen Majorisierungen von Minoritäten durch Majoritäten" und das „sozial­demokratische Ideal der Organisation aller Arbeit durch den Staat" (240/241)*.


* In demselben Geiste spricht sich auch Mach für den Beamtensozialismus von Popper und Menger aus, durch den „die Freiheit des Individuums" gewahrt [weiter...]

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Grenzenloser Stumpfsinn des Spießers, der unter dem Deckmantel einer „neuen", „empiriokritischen" Systematisierung und Terminologie selbstzufrieden den abgegriffensten Plunder auftischt — darauf also laufen die soziologischen Streifzüge Bleis, Petzoldts und Machs hinaus. Ein prätentiöses Gewand aus Wortungetümen, ausgetüftelte Kniffe der Syllogistik, raffinierte Scholastik - mit einem Wort, es ist dasselbe in der Soziologie 'wie in der Erkenntnistheorie, der gleiche reaktionäre Inhalt hinter dem gleichen marktschreierischen Aushängeschild.
Und nun sehen wir uns die russischen Machisten an.



Datum der letzten Änderung : Jena, den: 10.03.2013