7. Ein russischer „idealistischer Physiker" | Inhalt | 1. Streifzüge der deutschen Empiriokritiker in das Gebiet der Gesellschiaftswissenschaften

8. Wesen und Bedeutung des „physikalischen" Idealismus

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Wir haben gesehen, daß die Frage nach den erkenntnistheoretischen Schlußfolgerungen aus der modernen Physik sowohl in der englischen als auch in der deutschen und in der französischen Literatur aufgeworfen worden ist und unter den verschiedensten Gesichtspunkten erörtert wird. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß wir es hier mit einer gewissen internationalen geistigen Strömung zu tun haben, die nicht allein von irgendeinem einzelnen philosophischen System abhängt, sondern gewissen allgemeinen, außerhalb der Philosophie liegenden Ursachen entspringt. Die oben gegebene Übersicht der Tatsachen zeigt zweifellos, daß der Machismus mit der neuen Physik „zusammenhängt", und sie zeigt zugleich die grundfalsche Vorstellung, die von unseren Machisten über diesen Zusammenhang verbreitet wird. Wie in der Philosophie, so folgen unsere Machisten auch in der Physik sklavisch der Mode und verstehen es nicht, von ihrem, dem marxistischen, Standpunkt aus eine Gesamtübersicht über bestimmte Strömungen zu geben und ihren Platz zu bewerten.

Doppelt falsch ist alles Gerede darüber, daß die Philosophie Machs „die Philosophie der Naturwissenschaft des 20. Jahrhunderts", die „neueste Philosophie der Naturwissenschaften", der „neueste naturwissenschaftliche Positivismus" usw. sei (Bogdanow im Vorwort zur „Analyse der Empfindungen", S. IV, XII; vgl. dasselbe bei Juschkewitsch, Walentinow und Co.). Erstens ist der Machismus nur mit einer Schule in einem Zweig der modernen Naturwissenschaft ideologisch verbunden. Zweitens, und das ist die Hauptsache, verbindet den Machismus mit dieser Schule webt das, was ihn von allen anderen Richtungen und Systemchen der idealistischen Philosophie untersdieidet, sondern das, was er mit dem ganzen philosophischen Idealismus überhaupt gemein hat. Es genügt ein Blick auf die ganze zur Diskussion stehende geistige Strömung in ibrer Gesamtheit, um auch den leisesten Zweifel an der Richtigkeit dieses Satzes zu beseitigen. Man nehme die Physiker dieser Schule: den Deutschen Mach, den Franzosen Henri Poincaré, den Belgier P. Duhem, den Engländer

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K. Pearson. Sie haben vieles miteinander gemein, sie haben die gleiche Grundlage, die gleiche Richtung, wie dies jeder von ihnen ganz mit Recht zugibt, aber zu diesem Gemeinsamen gehört weder die Lehre des Empiriokritizismus im allgemeinen noch auch nur die Lehre Machs von den „Weltelementen" im besonderen. Weder die eine noch die andere Lehre ist den drei letztgenannten Physikern auch nur bekannt. Sie haben „nur" eines miteinander gemein: den philosophischen Idealismus, zu dem sie alle ohne Ausnahme mehr oder weniger bewußt, mehr oder weniger entschieden neigen. Man nehme die Philosophen, die sich auf diese Schule der neuen Physik stützen und sich bemühen, sie erkenntnistheoretisch zu begründen und weiterzuentwickeln, und da trifft man wiederum deutsche Immanenzphilosophen, Schüler Machs, französische Neokritizisten und Idealisten, englische Spiritualisten, den Russen Lopatin nebst dem einzigen Empiriomonisten A. Bogdanow. Sie alle haben nur eines miteinander gemein, nämlich daß sie alle mehr oder weniger bewußt, mehr oder weniger entschieden, sei es mit einer ganz ausgesprochenen und heftigen Neigung zum Fideismus, sei es mit persönlichem Widerwillen gegen diesen (wie A. Bogdanow) den philosophischen Idealismus vertreten.

Die Grundidee der zur Diskussion stehenden Schule der neuen Physik ist die Leugnung der objektiven Realität, die uns in der Empfindung gegeben ist und in unseren Theorien widergespiegelt wird, oder der Zweifel an der Existenz einer solchen Realität. Hier trennt sich diese Schule von dem nach allgemeinem Eingeständnis unter den Physikern herrschenden Materialismus (der ungenau Realismus, Neomechanismus, Hylokinetik genannt und von den Physikern selber irgendwie bewußt nicht weiterentwickelt wird), sie sondert sich ab als Schule des „physikalischen" Idealismus.

Um diesen sehr sonderbar klingenden Terminus zu erklären, muß man an eine Episode aus der Geschichte der modernen Philosophie und der modernen Naturwissenschaft erinnern. Im Jahre 1866 fiel L. Feuerbach über Johannes Müller, den berühmten Begründer der modernen Physiologie, her und bezeichnete ihn als „physiologischen Idealisten" (Werke, X, S. 197). Der Idealismus dieses Physiologen bestand in folgendem: bei der Untersuchung der Bedeutung des Mechanismus unserer Sinnesorgane in ihrer Beziehung zu den Empfindungen wies er zum Beispiel darauf hin, daß die Lichtempfindung die Folge verschiedenartiger Einwirkung auf das

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Auge ist, war aber geneigt, daraus den Schluß zu ziehen, die Behauptung, daß unsere Empfindungen Abbilder der objektiven Realität sind, sei zu verneinen. Diese Tendenz einer Naturforscherschule zum „physiologischen Idealismus", d. h. zu einer idealistischen Interpretation gewisser Resultate der Physiologie, hat L. Feuerbach außerordentlich treffend erfaßt. Der „Zusammenhang" der Physiologie mit dem philosophischen Idealismus, vorwiegend kantianischer Färbung, wurde dann lange Zeit von der reaktionären Philosophie ausgebeutet. F. A. Lange spielte die Physiologie zugunsten des Kantschen Idealismus und zur Widerlegung des Materialismus aus, und von den Immanenzphilosophen (die A. Bogdanow so irrigerweise zur mittleren Linie zwischen Mach und Kant zählte) zog speziell J. Rehmke 1882 gegen die vermeintliche Bestätigung des Kantianismus durch die Physiologie zu Felde.* Daß eine Anzahl großer Physiologen in jener Zeit zum Idealismus und zum Kantianismus hinneigte, ist ebenso unbestreitbar, wie es unbestreitbar ist, daß eine Reihe großer Physiker in unserer Zeit zum philosophischen Idealismus hinneigt. Der „physikalische" Idealismus, d. h. der Idealismus einer bestimmten Schule von Physikern am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, „widerlegt" ebensowenig den Materialismus, beweist ebensowenig den Zusammenhang des Idealismus (oder des Empiriokritizismus) mit der Naturwissenschaft, wie die entsprechenden Bemühungen eines F. A. Lange und der „physiologischen" Idealisten beweiskräftig waren. Die Abweichung nach der Seite der reaktionären Philosophie, die sich in dem einen wie dem ändern Fall bei einer Schule von Naturforschern in einem Zweig der Naturwissenschaft zeigte, ist ein zeitweiliger Zickzack, eine vorübergehende krankhafte Periode in der Geschichte der Wissenschaft, eine Wachstumskrankheit, hervorgerufen vor allem durch den jähen Zusammenbruch der alten eingebürgerten Begriffe.

Der Zusammenhang des modernen „physikalischen" Idealismus mit der Krise der modernen Physik wird, wie wir schon oben gezeigt haben, allgemein zugegeben. „Die Argumente der skeptischen Kritik gegen die moderne Physik", schreibt A. Rey, wobei er nicht so sehr die Skeptiker als vielmehr die offenen Anhänger des Fideismus vom Schlage eines Brunetière im Auge hat, „laufen im Grunde alle auf das berühmte Argument aller


* Johannes Rehmke, „Philosophie und Kantianismus", Eisenach 1882, S. 15 ff.

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Skeptiker hinaus: auf die Verschiedenheit der Meinungen" (unter den Physikern). Doch diese Meinungsverschiedenheiten „beweisen nichts gegen die Objektivität der Physik". „In der Geschichte der Physik heben sich, wie in jeder Geschichte, große Perioden ab, die sich durch die Form und den allgemeinen Charakter der Theorien unterscheiden... Sobald eine jener Entdeckungen gemacht wird, die alle Teile der Physik beeinflussen, weil sie irgendeine bis dahin schlecht oder nicht vollständig gewürdigte Grundtatsache feststellen, so verändert sich der ganze Charakter der Physik; eine neue Periode beginnt. So war es nach den Entdeckungen von Newton, nach den Entdeckungen von Joule-Mayer und Carnot-dausius. Dasselbe geschieht jetzt offenbar nach der Entdeckung der Radioaktivität ... Der Historiker, der die Ereignisse später mit dem notwendigen Abstand betrachtet, wird ohne Mühe dort, wo die Zeitgenossen nur Konflikte, Widersprüche, Spaltungen in verschiedene Schulen sahen, eine stetige Entwicklung erblicken. Offenbar ist auch die Krise, die die Physik in den letzten Jahren erlebt hat (trotz der Schlußfolgerungen, die die philosophische Kritik aus dieser Krise gezogen hat) nichts anderes. Es ist eine typische Wachstumskrise (crise de croissance), hervorgerufen durch die großen neuen Entdeckungen. Unleugbar wird die Krise zu einer Umgestaltung der Physik führen - sonst gäbe es keine Entwicklung, keinen Fortschritt -, doch wird sie den wissenschaftlichen Geist nicht verändern." (l. c., p. 370-372 [S. 342-344].)

Der Versöhner Rey bemüht sich, alle Schulen der modernen Physik gegen den Fideismus zu vereinigen! Das ist zwar eine gutgemeinte Fälschung, aber immerhin eine Fälschung, denn die Neigung der Schule Mach-Poincaré-Pearson zum Idealismus (will sagen, zu einem verfeinerten Fideismus) ist unbestreitbar. Jene Objektivität der Physik aber, die mit den Grundlagen des „wissenschaftlichen Geistes", zum Unterschied vom fideistischen Geist, zusammenhängt und die Rey so eifrig verteidigt, ist nichts anderes als eine „verschämte" Formulierung des Materialismus. Der materialistische Grundcharakter der Physik wie aller modernen Naturwissenschaft wird alle nur möglichen Krisen überwinden, jedoch muß der metaphysische Materialismus unbedingt durch den dialektischen ersetzt werden.

Daß die Krise der modernen Physik in ihrem Abgehen von der unum­wundenen, entschiedenen und unwiderruflichen Anerkennung des objek-

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tiven Wertes ihrer Theorien besteht, das sucht der Versöhner Rey oft zu vertuschen, doch die Tatsachen sind stärker als alle Versöhnungsversuche. „Die Mathematiker", schreibt Rey, „die gewohnt sind, mit einer Wissenschaft umzugehen, in der das Objekt - wenigstens scheinbar — vom Geist des Gelehrten erzeugt wird, wo sich jedenfalls die konkreten Erscheinungen nicht mehr in die Forschungen hineinmengen, haben sich von der Physik eine zu abstrakte Vorstellung gebildet: in ihrem Bemühen, die Physik immer mehr der Mathematik anzunähern, übertrugen sie die allgemeine Theorie der Mathematik auf die Physik ... Alle Experimentatoren sprechen von einem Einbruch (Invasion) des Geistes der Mathematik in die Methoden des physikalischen Urteilens und Denkens. Läßt sich nicht durch diesen Einfluß - der dadurch nicht geringer wird, daß er mitunter verborgen bleibt - die häufige Unsicherheit, das Schwanken des Denkens betreffs der Objektivität der Physik erklären, und die Umwege, die man macht, oder die Hindernisse, die man überwindet, um sie darzulegen?. .."(227 [210].)

Das ist vortrefflich gesagt. „Schwanken des Denkens" in der Frage der Objektivität der Physik - das ist das Wesen des in Mode gekommenen „physikalischen" Idealismus.

„... Die abstrakten Fiktionen der Mathematik haben gewissermaßen eine Scheidewand aufgerichtet zwischen der physikalischen Realität und der Art und Weise, wie die Mathematiker die Wissenschaft von dieser Realität verstehen. Sie spüren dunkel die Objektivität der Physik... sie wollen, wenn sie sich mit der Physik beschäftigen, vor allem objektiv sein, sie suchen sich auf die Realität zu stützen und diese Stütze beizubehalten, doch die früheren Gewohnheiten setzen sich durch. Und bis hinauf zu der energetischen Konzeption, die solider und mit weniger Hypothesen bauen wollte als die alte mechanische Physik, welche bestrebt war, die Sinnenwelt abzubilden (décalquer) und nicht neu zu erschaffen -, haben wir es immer mit Theorien von Mathematikern zu tun... Die Mathematiker haben alles getan, um die Objektivität der Physik zu retten, denn ohne Objektivität, das verstehen sie sehr wohl, kann von Physik keine Rede sein... Doch die Kompliziertheit ihrer Theorien, ihre Umwege hinterlassen ein peinliches Gefühl. Es ist zu gemacht, zu sehr gesucht, konstruiert (édifié); der Experimentator empfindet hier nicht jenes spontane Vertrauen, das ihm die stete Berührung mit der physikalischen Realität ein-

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flößt... Das ist es, was alle Physiker - und ihre Zahl ist Legion -, die vor allem Physiker oder nur Physiker sind, im Grunde genommen sagen, das ist es, was die ganze neomechanistische Schule sagt... Die Krise der Physik besteht in der Eroberung des physikalischen Gebiets durch den Geist der Mathematik. Die Fortschritte der Physik einerseits und die der Mathematik anderseits haben im 19. Jahrhundert zu einer innigen Verbindung dieser beiden Wissenschaften geführt... Die theoretische Physik wurde zur mathematischen Physik ... Dann begann die Periode der formellen Physik, d. h. der rein mathematischen Physik, der mathematischen Physik nicht mehr als eines Zweiges der Physik, sondern als eines Zweiges der Mathematik. In dieser neuen Phase mußte der Mathematiker, der an die rein logischen (conceptuels) Elemente, die das einzige Material seiner Arbeit bilden, gewöhnt war und der sich durch die groben, materiellen Elemente, welche er wenig geschmeidig fand, beengt fühlte, danach streben, möglichst von ihnen zu abstrahieren, sich dieselben ganz immateriell, rein logisch vorzustellen, oder gar sie völlig zu ignorieren. Die Elemente als reale, objektive Gegebenheiten, d. h. als physishe Elemente, sind ganz verschwunden, übriggeblieben sind formale Relationen, ausgedrückt in Differentialgleichungen... Falls der Mathematiker sich durch die konstruktive Arbeit seines Geistes nicht narren läßt.. . wird er den Zusammenhang der theoretischen Physik mit der Erfahrung herauszufinden wissen, aber auf den ersten Blick und für einen uneingeweihten Menschen bekommt es den Anschein einer willkürlichen Konstruktion der Theorie ... . Der abstrakte Begriff (le concept) tritt an die Stelle des realen Elements ... So erklärt sich geschichtlich, aus der mathematischen Form, die die theoretische Physik angenommen hat... das Mißbehagen (le malaise), die Krise der Physik und die scheinbare Entfernung der Physik von den objektiven Tatsachen." (228-232 [211-215].)

Das ist die erste Ursache des „physikalischen" Idealismus. Die reaktionären Neigungen werden durch den Fortschritt der Wissenschaft selbst erzeugt. Der große Erfolg der Naturwissenschaft, die Annäherung an so gleichartige und einfache Elemente der Materie, deren Bewegungsgesetze sich mathematisch bearbeiten lassen, läßt die Mathematiker die Materie vergessen. „Die Materie verschwindet", es bleiben einzig und allein Gleichungen. Auf einer neuen Entwicklungsstufe und gleichsam auf neue Art kommt die alte Kantsche Idee wieder: die Vernunft schreibt der Natur die

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Gesetze vor. Hermann Cohen, der, wie wir gesehen haben, über den idealistischen Geist der neuen Physik entzückt ist, versteigt sich so weit, daß er die Einführung der höheren Mathematik in die Schulen predigt, damit den Gymnasiasten der durch unsere materialistische Epoche verdrängte Geist des Idealismus eingeimpft werde. (Geschichte des Materialismus von A. Lange, 5. Auflage, 1896, Bd. II, S. XLIX.) Freilich ist das die unsinnige Träumerei eines Reaktionärs, und in Wirklichkeit gibt es hier nichts weiter und kann es nichts weiter geben als eine vorübergehende Schwärmerei für den Idealismus bei einem kleinen Häuflein von Spezialisten. Es ist aber im höchsten Grade bezeichnend, wie der Ertrinkende sich an einen Strohhalm klammert, mit welchen raffinierten Mitteln die Vertreter der gebildeten Bourgeoisie versuchen, für den Fideismus, der in den unteren Schichten der Volksmassen durch die Unwissenheit, durch die Unterdrückung und durch die widersinnige Barbarei der kapitalistischen Widersprüche erzeugt wird, künstlich ein Plätzchen zu bewahren ödet ausfindig zu machen.

Die andere Ursache, die den „physikalischen" Idealismus erzeugt hat, ist das Prinzip des Relativismus, der Relativität unseres Wissens, ein Prinzip, das sich den Physikern in der Periode des jähen Zusammenbruchs der alten Theorien mit besonderer Kraft aufdrängt und das - bei "Unkenntnis der Dialektik - unvermeidlich zum Idealismus führt.

Diese Frage nach dem Verhältnis zwischen Relativismus und Dialektik ist wohl die wichtigste für die Erklärung des theoretischen Mißgeschicks des Machismus. Rey zum Beispiel hat, wie alle europäischen Positivisten, keine Ahnung von der Marxschen Dialektik. Das Wort Dialektik gebraucht er ausschließlich im Sinne der idealistischen philosophischen Spekulation. Da er nun fühlt, daß die neue Physik über den Relativismus gestolpert ist, zappelt er hilflos hin und her und versucht, einen maßvollen und einen maßlosen Relativismus zu unterscheiden. Gewiß „grenzt der maßlose Relativismus, wenn nicht in der Praxis, so doch logisch, an einen wahren Skeptizismus" (215 [200]), doch bei Poincaré soll eben dieser „maßlose" Relativismus nicht zu finden sein. Als ob man auf einer Apothekerwaage ein bißchen mehr oder ein bißchen weniger Relativismus auswägen und damit die Sache des Machismus verbessern könnte!

In Wirklichkeit wird die einzige theoretisch richtige Fragestellung hin­sichtlich des Relativismus durch die materialistische Dialektik von Marx

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und Engels gegeben, und deren Unkenntnis muß unuermeidlich vom Relativismus zum philosophischen Idealismus führen. Das Verkennen dieses Umstands allein genügt übrigens schon, um dem abgeschmackten Büchlein des Herrn Berman über „Die Dialektik im Lichte der modernen Erkenntnistheorie" jede Bedeutung zu nehmen: Herr Berman wiederholte uralten Unsinn über die Dialektik, die er überhaupt nicht verstanden hat. Wir haben schon gesehen, daß sich bei allen Machisten auf Schritt und Tritt in der Erkenntnistheorie dasselbe Nichtverstehen äußert.

Alle alten Wahrheiten der Physik, einschließlich solcher, die als unbestreitbar und unerschütterlich gegolten haben, erweisen sich als relative Wahrheiten - also könne es keine objektive, von der Menschheit unabhängige Wahrheit geben. So argumentiert nicht nur der ganze Machismus, sondern der gesamte „physikalische" Idealismus überhaupt. Daß sich die absolute Wahrheit aus der Summe der relativen Wahrheiten in deren Entwicklung zusammensetzt, daß die relativen Wahrheiten relativ richtige Widerspiegelungen des von der Menschheit unabhängigen Objekts sind, daß diese Widerspiegelungen immer richtiger werden, daß in jeder wissenschaftlichen Wahrheit trotz ihrer Relativität ein Element der absoluten Wahrheit enthalten ist - alle diese Sätze, die sich für jeden, der über Engels' „Anti-Dühring" nachgedacht hat, von selbst verstehen, sind für die „moderne" Erkenntnistheorie ein Buch mit sieben Siegeln.

Werke wie „Die Theorie der Physik" von P. Duhem* oder „Die Begriffe und Theorien der modernen Physik" von Stallo**, die von Mach besonders empfohlen werden, zeigen überaus anschaulich, daß diese „physikalischen" Idealisten gerade dem Beweis der Relativität unserer Kenntnisse am meisten Bedeutung beimessen und im Grunde genommen zwischen Idealismus und dialektischem Materialismus schwanken. Die beiden Verfasser, die verschiedenen Epochen angehören und an die Frage unter verschiedenen Gesichtspunkten herantreten (Duhem ist Physiker von Beruf und hat zwanzig Jahre auf diesem Gebiet gearbeitet; Stallo ist ehemaliger orthodoxer Hegelianer, der sich seiner im Jahre 1848 veröffentlichten, im althegelianischen Geist gehaltenen Naturphilosophie schämt), kämpfen am energischsten gegen die atomistisch-mechanische Auffassung der Natur.


* P. Duhem, „La théorie physique, son objet et sa structure", Paris 1906.

** J. B. Stallo, „The Concepts and Theories of Modern Physics", London 1882. Es gibt eine französische und eine deutsche Übersetzung.

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Sie beweisen die Beschränktheit dieser Auffassung, die Unmöglichkeit, sie als Schranke unseres Wissens anzuerkennen, die Starrheit vieler Begriffe bei den Anhängern dieser Auffassung. Und dieser Mangel des alten Materialismus steht außer Zweifel; Nichtverstehen der Relativität aller wissenschaftlichen Theorien, Unkenntnis der Dialektik, Überschätzung des mechanischen Gesichtspunktes - das warf Engels den früheren Materialisten vor. Nur verstand es Engels (zum Unterschied von Stallo), den Hegeischen Idealismus über Bord zu werfen und den genialwahren Kern der Hegeischen Dialektik zu begreifen. Engels sagte sich von dem alten, metaphysischen Materialismus zugunsten des dialektisdien Materialismus los, nicht aber zugunsten des Relativismus, der in den Subjektivismus abgleitet. „Die mechanische Theorie", sagt z.B. Stallo, „nimmt wie alle metaphysischen Theorien ideale, vielleicht rein konventionelle Teilgruppen von Merkmalen oder einzelne Merkmale hypothetisch an und behandelt sie wie Arten objektiver Realität." (p. 150.)* Das trifft zu, wenn man auf die Anerkennung der objektiven Realität nicht verzichtet und die Metaphysik als antidialektisch bekämpft. Stallo gibt sich darüber nicht klar Rechenschaft. Die materialistische Dialektik hat er nicht begriffen und gleitet daher oft über den Relativismus zum Subjektivismus und Idealismus ab.

Desgleichen Duhem. Mit einem gewaltigen Aufwand an Arbeit, mit einer Reihe ebenso interessanter und wertvoller Beispiele aus der Geschichte der Physik, wie sie oft bei Mach zu finden sind, führt er den Nachweis, daß „jedes physikalische Gesetz provisorisch und relativ ist, weil es angenähert ist" (280 [227]). Er rennt doch offene Türen ein! - denkt der Marxist, der die langen Betrachtungen über dieses Thema liest. Aber das ist eben das Unglück der Duhem, Stallo, Mach, Poincaré, daß sie die von dem dialektischen Materialismus geöffnete Tür nicht sehen. Weil sie keine richtige Formulierung des Relativismus geben können, gleiten sie von diesem zum Idealismus ab. „Ein physikalisches Gesetz ist, genau gesprochen, weder wahr noch falsch, sondern angenähert", schreibt Duhem (p. 274 [222]). In diesem „sondern" steckt schon der Anfang des Fehlers, damit beginnt schon das Verwischen der Grenzlinie zwischen der wissenschaftlichen Theorie, die das Objekt annähernd widerspiegelt, d. h.


* Hier zitiert nach der deutschen Ausgabe Leipzig 1901, S. 150/151. Der Übers.

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sich der objektiven Wahrheit nähert, und einer willkürlichen, phantastischen, rein konventionellen Theorie, wie zum Beispiel der Theorie der Religion oder der des Schachspiels.

Dieser Fehler geht bei Duhem so weit, daß er die Frage, ob den sinnlichen Erscheinungen eine „materielle Realität" entspreche, für Metaphysik erklärt (p. 10 [S. 7]): fort mit der Frage nach der Realität; unsere Begriffe und Hypothesen sind bloße Symbole (signes, p. 26 [S. 21]), „willkürliche" (27 [21]) Konstruktionen u. ä. m. Von hier ist nur ein Schritt bis zum Idealismus, zur „Physik des Gläubigen", die Herr Pierre Duhem im Geiste des Kantianismus auch predigt (bei Rey, p. 162 [S. 151]; vgl. p. 160 [S. 149]). Der gute Adler (Fritz) aber - auch ein Machist, der Marxist sein möchte! - wußte nichts Klügeres zu tun, als Duhem folgendermaßen zu „korrigieren": er beseitige die „Realitäten, die hinter den Erscheinungen verborgen sind, nur als Objekte der Theorie, nicht aber als Objekte der "Wirklidtkeit"*. Das ist die uns schon bekannte Kritik des Kantianismus vom Standpunkt Humes und Berkeleys.

Doch kann von einem bewußten Kantianismus bei P. Duhem keine Rede sein. Genau wie Mach schwankt er einfach und weiß nicht, worauf er seinen Relativismus stützen soll. An einer ganzen Reihe von Stellen kommt er dicht an den dialektischen Materialismus heran. Wir kennen den Ton, „wie er in Beziehung zu uns ist, nicht aber wie er selbst in den tönenden Körpern beschaffen ist. Die Theorien der Akustik gehen darauf aus, uns die Wirklichkeit, von der unsere Eindrücke bloß die Hülle und der Schleier sind, zur Kenntnis zu bringen. Sie wollen uns lehren, daß da, wo wir nur diese Erscheinung, die wir den Ton nennen, wahrnehmen, in Wirklichkeit eine sehr kleine und sehr schnelle Schwingung vorhanden ist" usw. (p. 7 [S. 4/5].) Nicht die Körper sind Symbole der Empfindungen, sondern die Empfindungen sind Symbole (richtiger: Abbilder) der Körper. „Die Entwicklung der Physik bewirkt einen fortwährenden Kampf zwischen ,der Natur, die nicht müde wird, Neues zu zeigen', und dem Verstand, der ,nicht müde werden will, zu begreifen'" (p. 32 [S. 25]) - die Natur sei unendlich, so wie ihr kleinstes Teilchen (darunter auch das Elektron) unendlich sei, doch die Vernunft verwandle ebenso unendlich die „Dinge an sich" in „Dinge für uns". „So wird sich dieser Kampf zwischen der Wirk-


* „Vorbemerkung des Übersetzers" zur deutschen Übersetzung von Duhems Buch, Leipzig 1908, J. Barth.

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lichkeit und den physikalischen Gesetzen unendlich ausdehnen; jedem Gesetz, das die Physik formulieren wird, wird die Wirklichkeit früher oder später die rücksichtslose Widerlegung durch eine Tatsache entgegenstellen; aber unermüdlich wird die Physik das widerlegte Gesetz verbessern, modifizieren und verwickelter machen." (290 [235].) Das wäre eine ganz richtige Darstellung des dialektischen Materialismus, wenn nur der Verfasser fest bei der von der Menschheit unabhängigen Existenz dieser objektiven Realität bliebe. „... die physikalische Theorie ist nicht ein rein künstliches System, welches heute bequem, morgen aber nutzlos sein wird, sie wird eine immer mehr naturgemäße Klassifikation, ein immer klarerer Reflex der Realitäten, die die experimentelle Methode nicht unmittelbar sehen kann" (wörtlich: von Angesicht zu Angesicht: face à face, p. 445 [S. 367]).

Der Machist Duhem liebäugelt im letzten Satz mit dem Kantschen Idealismus: es erweckt den Anschein, als ob sich für eine andere als die „experimentelle" Methode ein Pfad auftäte, als ob wir die „Dinge an sich" nicht direkt, unmittelbar, von Angesicht zu Angesicht erkennen. Wenn aber die physikalische Theorie immer naturgemäßer wird, dann existiert also unabhängig von unserem Bewußtsein eine „Natur", eine Realität, die von dieser Theorie „widergespiegelt" wird - eben das ist die Ansicht des dialektischen Materialismus.

Mit einem Wort, der „physikalische" Idealismus von heute bedeutet genauso wie der „physiologische" Idealismus von gestern nur, daß eine bestimmte Schule von Naturforschern in einem bestimmten Zweig der Naturwissenschaft zu einer reaktionären Philosophie abgeglitten ist, weil sie nicht vermochte, sich direkt und von Anfang an vom metaphysischen Materialismus zum dialektischen Materialismus zu erheben.* Die moderne


* Der berühmte Chemiker William Ramsay sagt: „Ich bin oft gefragt worden: Ist die Elektrizität nicht eine Schwingung? Wie ist es möglich, die drahtlose Telegrafie durch die Fortbewegung von kleinen Teilchen oder Korpuskeln zu erklären? Die Antwort darauf lautet: Elektrizität ist ein Ding; sie besteht" (hervorgehoben von Ramsay) „aus diesen winzigen Korpuskeln, und wenn diese Korpuskeln irgendein Objekt verlassen, so breitet sich im Äther eine Welle ähnlich der Lichtwelle aus, und diese Welle wird für die drahtlose Telegrafie benutzt." (William Ramsay, „Essays Biographical and Chemical", London 1908, p. 126.) Nachdem Ramsay die Verwandlung von Radium in Helium geschildert hat, bemerkt er: „Wenigstens kann ein sogenanntes Element [weiter..]

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Physik macht diesen Schritt und wird ihn vollziehen, aber sie steuert auf diese einzig richtige Methode und einzig richtige Philosophie der Naturwissenschaft nicht direkt hin, sondern im Zickzack, nicht bewußt, sondern spontan, wobei sie ihr „Endziel" nicht klar sieht, sondern sich ihm tastend, schwankend nähert, manchmal sogar mit dem Rücken voran. Die moderne Physik liegt in Geburtswehen. Sie ist dabei, den dialektischen Materialismus zu gebären. Die Entbindung verläuft schmerzhaft. Außer dem lebendigen und lebensfähigen Wesen kommen unvermeidlich gewisse tote Produkte, einige Abfälle zum Vorschein, die in die Kehrichtgrube gehören. Zu diesen Abfällen gehört der ganze physikalische Idealismus, die ganze empiriokritische Philosophie samt dem Empiriosymbolismus, Empiriomonismus usw. usf.


nicht länger als letzte Materie betrachtet werden, da es sich selbst in eine einfachere Form der Materie verwandelt." (p. 160.) „Es ist fast gewiß, daß die negative Elektrizität eine bestimmte Art Materie ist; positive Elektrizität ist Materie, der negative Elektrizität fehlt, d. h. Materie minus diese elektrische Materie." (p. 176.) „Was ist Elektrizität? Früher dachte man, daß es zwei Arten von Elektrizität gäbe: positive und negative. Damals wäre es noch nicht möglich gewesen, die gestellte Frage zu beantworten. Aber die neuesten Forschungen machen es wahrscheinlich, daß das, was man als negative Elektrizität zu bezeichnen pflegte, in Wirklichkeit (really) eine Substanz ist. In der Tat ist das relative Gewicht ihrer Teilchen gemessen worden; jedes Teilchen ist ungefähr einem Siebenhundertstel der Masse eines Wasserstoffatoms gleich ... Die Elektrizitätsatome werden Elektronen genannt." (196.) (Hier mit einigen Abänderungen zitiert nach der deutschen Ausgabe Leipzig 1909, die unter dem Titel „Vergangenes und Künftiges aus der Chemie. Biographische und chemische Essays" erschienen ist. S. 170, 203, 220, 239. Der Tibers.) Wenn unsere Machisten, die Bücher und Aufsätze über philosophische Themen schreiben, denken könnten, dann hätten sie begriffen, daß Ausdrücke wie „die Materie verschwindet", „die Materie reduziert sich auf Elektrizität" usw. nur der erkenntnistheoretisch-hilflose Ausdruck jener Wahrheit sind, daß es gelingt, neue Formen der Materie, neue Formen der materiellen Bewegung zu entdecken, die alten Formen auf diese neuen zurückzuführen usw.



Datum der letzten Änderung : Jena, den: 19.08.2013