Transzendentale Elementarlehre | Inhalt | Zweiter Abschnitt

DIE TRANSZENDENTALE ÄSTHETIK

Erster Abschnitt

Vom Raum

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Durch den äußeren Sinn (eine Eigenschaft unseres Gemüts) stellen wir uns Gegenstände als außer uns und diese insgesamt im Raum vor. Darinnen ist ihre Gestalt, Größe und ihr Verhältnis gegeneinander bestimmt oder bestimmbar. Der innere Sinn, durch den das Gemüt sich selbst oder seinen inneren Zustand anschaut, gibt zwar keine Anschauung von der Seele selbst als einem Objekt, allein es ist doch eine bestimmte Form, unter der die Anschauung ihres inneren Zustands allein möglich ist, so daß alles, was zu den inneren Bestimmungen gehört, in Verhältnissen der Zeit vorgestellt wird. Äußerlich kann die Zeit nicht angeschaut werden, sowenig wie der Raum, als etwa in uns. Was sind nun Raum und Zeit? Sind es wirkliche Wesen? Sind es zwar nur Bestimmungen oder auch Verhältnisse der Dinge, aber doch solche, welche ihnen auch an sich zukommen würden, wenn sie auch nicht angeschaut würden, oder sind sie solche, die nur an der Form der Anschauung allein haften und mithin an der subjektiven Beschaffenheit unseres Gemüts, ohne welche diese Prädikate gar keinem Dinge beigelegt werden können? Um uns hierüber zu belehren, wollen wir zuerst den Raum betrachten.

1. Der Raum ist kein empirischer Begriff, der von äußeren Erfahrungen abgezogen wurde. Denn damit gewisse Empfindungen auf etwas außer mich bezogen werden (d.i. auf etwas in einem ändern Orte des Raums, als darinnen ich mich befinde), ungleichen damit ich sie als außer und nebeneinander, mithin nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu muß die Vorstellung des Raums schon zugrunde liegen. Demnach kann die Vorstellung des Raums nicht aus den Verhältnissen der äußeren Erscheinung durch Erfahrung erborgt sein, sondern diese äußere Erfahrung ist selbst nur durch gedachte Vorstellung allererst möglich.

2. Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zugrunde liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, obgleich man sich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden. Er wird also als die Bedingung der Möglich-

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keit der Erscheinungen und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung angesehen und ist eine Vorstellung a priori, die notwendigerweise äußeren Erscheinungen zugrunde liegt.

3. Auf diese Notwendigkeit a priori gründet sich die apodiktische Gewißheit aller geometrischen Grundsätze und die Möglichkeit ihrer Konstruktionen a priori. Wäre nämlich diese Vorstellung des Raums ein a posteriori erworbener Begriff, der aus der allgemeinen äußeren Erfahrung geschöpft wäre, so würden die ersten Grundsätze der mathematischen Bestimmung nichts als Wahrnehmungen sein. Sie hätten also alle Zufälligkeit der Wahrnehmung, und es wäre eben nicht notwendig, daß zwischen zwei Punkten nur eine gerade Linie sei, sondern die Erfahrung würde es so jederzeit lehren. Was von der Erfahrung entlehnt ist, hat auch nur komparative Allgemeinheit, nämlich durch Induktion. Man würde also nur sagen können, soviel zur Zeit noch bemerkt wurde, ist kein Raum gefunden worden, der mehr als drei Abmessungen hätte.

4. Der Raum ist kein diskursiver oder, wie man sagt, allgemeiner Begriff von Verhältnissen der Dinge überhaupt, sondern eine reine Anschauung. Denn erstlich kann man sich nur einen einzigen Raum vorstellen, und wenn man von vielen Räumen redet, so versteht man darunter nur Teile ein und desselben alleinigen Raums. Diese Teile können auch nicht vor dem einzigen allbefassenden Raum gleichsam als dessen Bestandteile (daraus seine Zusammensetzung möglich sei) vorhergehen, sondern nur in ihm gedacht werden. Er ist wesentlich einig, das Mannigfaltige in ihm, mithin auch der allgemeine Begriff von Räumen überhaupt beruht lediglich auf Einschränkungen. Hieraus folgt, daß in Ansehung seiner eine Anschauung a priori (die nicht empirisch ist) allen Begriffen von denselben zugrunde liegt. So werden auch alle geometrischen Grundsätze, z.B. daß in einem Dreieck zwei Seiten zusammen größer seien als die dritte, niemals aus allgemeinen Begriffen von Linie und Dreieck, sondern aus der Anschauung, und zwar a priori, mit apodiktischer Gewißheit abgeleitet.

5. Der Raum wird als eine unendliche Größe gegeben vorgestellt. Ein allgemeiner Begriff vom Raum (der sowohl einem Fuß als einer Elle gemein ist) kann in Ansehung der Größe nichts bestimmen. Wäre es nicht die Grenzenlosigkeit im Fortgang der Anschauung, so würde kein Begriff von Verhältnissen ein Prinzip ihrer Unendlichkeit bei sich führen.

Schlüsse aus obigen Begriffen

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a) Der Raum stellt gar keine Eigenschaft irgend einiger Dinge an sich oder sie in ihrem Verhältnis aufeinander vor, d, i. keine Bestimmung derselben, die an Gegenständen selbst haftete und welche bliebe, wenn man auch von allen subjektiven Bedingungen der Anschauung abstrahierte. Denn weder absolute noch relative Bestimmungen können vor dem Dasein der Dinge, welchen sie zukommen, mithin nicht a priori angeschaut werden.

b) Der Raum ist nichts anderes als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d.i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist. Weil nun die Rezeptivität des Subjekts, von Gegenständen affiziert zu werden, notwendigerweise vor allen Anschauungen dieser Objekte vorhergeht, so läßt sich verstehen, wie die Form aller Erscheinungen vor allen wirklichen Wahrnehmungen, mithin a priori, im Gemüt gegeben sein könne und wie sie als eine reine Anschauung, in der alle Gegenstände bestimmt werden müssen, Prinzipien ihrer Verhältnisse vor aller Erfahrung enthalten könne.

Wir können demnach nur aus dem Standpunkt eines Menschen vom Raum, von ausgedehnten Wesen usw. reden. Gehen wir von der subjektiven Bedingung ab, unter welcher wir allein äußere Anschauung bekommen können, so wie wir nämlich von den Gegenständen affiziert werden mögen, so bedeutet die Vorstellung vom Raum gar nichts. Dieses Prädikat wird den Dingen nur insofern beigelegt, als sie uns erscheinen, d.i. Gegenstände der Sinnlichkeit sind. Die beständige Form dieser Rezeptivität, welche wir Sinnlichkeit nennen, ist eine notwendige Bedingung aller Verhältnisse, darinnen Gegenstände als außer uns angeschaut werden und, wenn man von diesen Gegenständen abstrahiert, eine reine Anschauung, welche den Namen Raum führt. Weil wir die besonderen Bedingungen der Sinnlichkeit nicht zu Bedingungen der Möglichkeit der Sachen, sondern nur ihrer Erscheinungen machen können, so können wir wohl sagen, daß der Raum alle Dinge befasse, die uns äußerlich erscheinen mögen, aber nicht alle Dinge an sich selbst, sie mögen nun angeschaut werden oder nicht oder auch von welchem Subjekt man wolle. Denn wir können von den Anschauungen anderer denkender Wesen gar nicht urteilen, ob sie an die nämlichen Bedingungen gebunden seien, welche unsere Anschauung einschränken und für uns allgemein gültig sind. Wenn wir die Einschränkung eines Urteils zum Begriff des Subjekts hin-

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zufügen, so gilt das Urteil alsdann unbedingt. Der Satz »Alle Dinge sind nebeneinander im Raum« gilt nur unter der Einschränkung, wenn diese Dinge als Gegenstände unserer sinnlichen Anschauung genommen werden. Füge ich hier die Bedingung zum Begriff und sage, alle Dinge, als äußere Erscheinungen, sind nebeneinander im Raum, so gilt diese Regel allgemein und ohne Einschränkung. Unsere Erörterungen lehren demnach die Realität (d.i. die objektive Gültigkeit) des Raums in Ansehung alles dessen, was äußerlich als Gegenstand uns vorkommen kann, aber zugleich die Idealität des Raums in Ansehung der Dinge, wenn sie durch die Vernunft an sich selbst erwogen werden, d.i. ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit zu nehmen. Wir behaupten also die empirische Realität des Raums (in Ansehung aller möglichen äußeren Erfahrung), obzwar zugleich die transzendentale Idealität desselben, d.i. daß er nichts sei, sobald wir die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung weglassen und ihn als etwas, was den Dingen an sich selbst zugrunde liegt, annehmen.

Es gibt aber auch außer dem Raum keine andere subjektive und auf etwas Äußeres bezogene Vorstellung, die a priori objektiv heißen könnte. Daher diese subjektive Bedingung aller äußeren Erscheinungen mit keiner anderen verglichen werden kann. Der Wohlgeschmack eines Weins gehört nicht zu den objektiven Bestimmungen des Weins, mithin eines Objekts sogar als Erscheinung betrachtet, sondern zu der besonderen Beschaffenheit des Sinnes an dem Subjekt, das ihn genießt. Die Farben sind nicht Beschaffenheiten der Körper, deren Anschauung sie anhängen, sondern auch nur Modifikationen des Sinnes des Gesichts, welches vom Licht auf gewisse Weise affiziert wird. Dagegen gehört der Raum, als Bedingung äußerer Objekte, notwendigerweise zur Erscheinung oder Anschauung derselben. Geschmack und Farben sind gar nicht notwendige Bedingungen, unter welchen die Gegenstände allein für uns Objekte der Sinne werden können. Sie sind nur als zufällig beigefügte Wirkungen der besonderen Organisation mit der Erscheinung verbunden. Daher sind sie auch keine Vorstellungen a priori, sondern auf Empfindung, der Wohlgeschmack aber sogar auf Gefühl (der Lust und Unlust) als einer Wirkung der Empfindung gegründet. Auch kann niemand a priori weder eine Vorstellung einer Farbe noch irgendeines Geschmacks haben: der Raum aber betrifft nur die reine Form der Anschauung, schließt also gar keine Empfindung (nichts Empirisches) in

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sich und alle Arten und Bestimmungen des Raums können und müssen sogar a priori vorgestellt werden können, wenn Begriffe der Gestalten sowohl als Verhältnisse entstehen sollen. Durch denselben ist es allein möglich, daß Dinge für uns äußere Gegenstände seien.

Die Absicht dieser Anmerkung geht nur dahin, zu verhüten, daß man die behauptete Idealität des Raums nicht durch bei weitem unzulängliche Beispiele zu erläutern sich einfallen lasse, da nämlich etwa Farben, Geschmack usw. mit Recht nicht als Beschaffenheit der Dinge, sondern bloß als Veränderungen unseres Subjekts, die sogar bei verschiedenen Menschen verschieden sein können, betrachtet werden. Denn in diesem Fall gilt das, was ursprünglich selbst nur Erscheinung ist, z.B. eine Rose, im empirischen Verstand für ein Ding an sich selbst, welches doch jedem Auge in Ansehung der Farbe anders erscheinen kann. Dagegen ist der transzendentale Begriff der Erscheinungen im Raum eine kritische Erinnerung, daß überhaupt nichts, was im Raum angeschaut wird, eine Sache an sich noch daß der Raum eine Form der Dinge sei, die ihnen etwa an sich selbst eigen wäre, sondern daß uns die Gegenstände an sich gar nicht bekannt seien, und, was wir äußere Gegenstände nennen, nichts anderes als bloße Vorstellungen unserer Sinnlichkeit seien, deren Form der Raum ist, deren wahres Korrelat aber, d. i. das Ding an sich selbst, dadurch gar nicht erkannt wird noch erkannt werden kann, nach welchem aber auch in der Erfahrung niemals gefragt wird.




Datum der letzten Änderung : Jena, den : 04.05.2014