Bundesverfassungsgericht
Beschluss vom 15.08.96, 2 BvR 1833/95
Leitsatz
Eine Person, die nach der "kleinen Lösung" des Transsexuellengesetzes
ihren Vornamen geändert hat, muß mit der dem Vornamen entsprechenden
geschlechtsspezifischen Anrede angesprochen werden.
Bundesverfassungsgericht
- 2 BvR 1833/95 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde
der Frau N.N., Herzogenriedstraße 111, Justizvollzugsanstalt, Mannheim,
- Bevollmächtigte: Rechtsanwältin Maria Sabine Augstein, Altes
Forsthaus 12, Tutzing - gegen
a) den Beschluss des OLG Karlsruhe vom 12. Juli 1995 - 3 Ws 294/94 -,
b) den Beschluss des LG Mannheim vom 9. November 1994 - StVK 18 -B- 431/94
-,
c) den Bescheid des Justizministeriums Baden-Württemberg vom 6. Oktober
1994 - 4514 E - 51/93-,
d) den Bescheid der JVA Mannheim vom 8. August 1994 - Dre/Ls -
und Antrag auf Bewilligung von PKH und Beiordnung der Rechtsanwältin
Augstein
hat die 2. Kammer des zweiten Senats des BVG durch die Richterin Präsidentin
Limbach und die Richter Kruis, Winter gemäß Paragraph 93c in
Verbindung mit Paragraphen 93a, 93b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 15. August 1996 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluss des OLG Karlsruhe vom 12. Juli 1995 - 3 Ws 294/94 - und
der Beschluss des LG Mannheim vom 9. November 1994 - StVK 18 -B- 431/94
- verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 2
Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Sie werden ausgehoben.
Die Sache wird an das LG Mannheim zurückverwiesen.
2. Das Land Ba-Wü hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen
Auslagen zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Gewährung
von PKH.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob eine transsexuelle Person
nach rechtskräftiger Änderung ihres Vornamens von Verfassungswegen
mit der ihrem neuen Namen entsprechenden Geschlechtsbezeichnung anzusprechen
ist.
I. Die Beschwerdeführerin, die eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt,
empfindet sich trotz männlicher biologischer Ausstattung als dem
weiblichen Geschlecht zugehörig. Ihrem Antrag entsprechend wurde
ihr ursprünglich männlicher Vorname gemäß Paragraph
1 TSG mit Gerichtsbeschluss vom 18. April 1994 in einen weiblichen geändert.
Dessen ungeachtet wurde sie - in einer Männerhaftanstalt untergebracht
- von den mit ihr befassten Vollzugsmitarbeitern teilweise weiterhin mit
"Herr ..." angesprochen; auch in dem sie betreffenden Schriftverkehr
verwendete die Vollzugsverwaltung weiterhin die männliche Anrede.
Einen Antrag der Beschwerdeführerin an die Anstaltsleitung, sie nun
ausschließlich als Frau anzusprechen, beschied diese abschlägig.
Die betreffenden Mitarbeiter seien ohnehin angewiesen, gegenüber
der Beschwerdeführerin möglichst eine neutrale, jedenfalls nicht
die männliche Geschlechtsbezeichnung zu verwenden. Die gegen diese
Bescheid erhobene Beschwerde wies die zuständige Landesjustizverwaltung
als unbegründet zurück, wobei sie die Ansicht vertrat, die Anrede
"Herr" oder "Frau" sei eine Geschlechtsbezeichnung.
Da aber lediglich der Vorname der Beschwerdeführerin geändert
worden sei, ihre rechtliche Stellung als Mann jedoch davon unberührt
bleibe, müsse sie von Rechts wegen weiterhin mit "Herr ..."
angeredet werden.
Gegen diesen Bescheid trug die Beschwerdeführerin auf gerichtliche
Entscheidung an. Die zuständige Strafvollstreckungskammer vertrat
mit Beschluss vom 9. November 1994 die Ansicht, der von ihr in Anspruch
genommenen weiblichen Anrede stehe Paragraph 10 Abs. 1 TSG entgegen, der
eindeutig bestimme, daß sich die vom Geschlecht abhängigen
Rechte erst ab Rechtskraft der Geschlechtsumwandlungsentscheidung nach
dem neuen Geschlecht bestimmten. Da eine Entscheidung nach den Paragraphen
8 ff. TSG im Fall der Beschwerdeführerin bislang nicht vorliege,
könne diese auch eine weibliche Anrede nicht verlangen. Das mit der
Rechtsbeschwerde angerufene OLG bestätigte den landgerichtlichen
Beschluss am 12. Juli 1995 lediglich mit der Erwägung, daß
eine dem neuen Status der Beschwerdeführerin entsprechende weibliche
Anrede zwar durch die Höflichkeit geboten sei; ein einklagbarer Rechtsanspruch
jedoch insoweit nicht bestehe.
II. Mit ihrer rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die
Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Grundrechte auf Achtung ihrer
Menschenwürde und ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art.
1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG). In den angegriffenen Entscheidungen werde durchweg
verkannt, daß ihr seit Änderung ihres Vornamens ein verfassungsrechtlich
geschützter Rechtsanspruch gegen jedermann auf Verwendung der weiblichen
Anredeform zustehe. Jede Missachtung dieses Rechts verletze sie in ihren
Grundrechten.
III. Das Justizministerium Ba.-Wü. hält die Verfassungsbeschwerde
für unbegründet. Es entspreche der Konsequenz der gesetzgeberischen
Entscheidung für die so genannte "kleine Lösung" (Paragraphen
1 ff. TSG), daß die Beschwerdeführerin rechtlich nach wie vor
als Mann zu behandeln sei. Im allgemeinen Sprachgebrauch orientiere sich
die Anrede am Geschlecht und nicht am Vornamen; ein Grundrechtsverstoß
liege darin nicht.
IV. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil
dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt
ist (Paragraphen 93a Abs. 2 Lit. B, 93b Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde
ist offensichtlich begründet; die insoweit maßgeblichen Fragen
hat das BVG in seinem Beschluss vom 11. Oktober 1978 (BVerfGE 49, 286
ff.) bereits entschieden. Die Kammer ist damit auch zur Sachentscheidung
berufen (Paragraph 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Art. 1. Abs 1 GG schützt die Würde des Menschen in der Individualität,
in der er sich selbst begreift. Dieser Verfassungsgrundwert gewährleistet
zugleich in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG die Freiheit des Individuums,
sich seinen Fähigkeiten und Kräften entsprechend zu entfalten.
Aus der Achtung der Menschenwürde und dem Grundrecht auf freie Entfaltung
der Persönlichkeit folgt das Gebot, den Personenstand des Menschen
dem Geschlecht zuzuordnen, dem er nach seiner psychischen und physischen
Konstitution zugehört (vgl. BVerfGE 49, 286 ). Die Frage, welchem
Geschlecht sich ein Mensch zugehörig empfindet, betrifft dabei seinen
Sexualbereich, den das GG als Teil der Privatsphäre unter den verfassungsrechtlichen
Schutz der Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gestellt hat (vgl. BVerfGE
47, 46 ; 60, 123 ; 88, 87 ). Jedermann kann daher von den staatlichen
Organen die Achtung dieses Bereichs verlangen. Das schließt die
Pflicht ein, die individuelle Entscheidung eines Menschen über seine
Geschlechtszugehörigkeit zu respektieren.
2. Auslegung und Anwendung des TSG bestimmen sich nach diesen verfassungsrechtlichen
Anforderungen. Das TSG vom 10. September 1980 (BGBl. I, S. 1654), dessen
Entstehung auf dem Beschluss des BVG vom 11. Oktober 1978 (BVerfGE 49,
286 ff.) zurückgeht, sieht für den Geschlechtswechsel eine abgestufte
Regelung vor. Der eigentlichen Geschlechtsänderung aufgrund geschlechtsanpassender
Operation ("große Lösung") nach den Paragraphen 8
ff. TSG kann danach gemäß der Paragraphen 1 bis 7 TSG als Vorstufe
eine Vornamensänderung vorausgehen ("kleine Lösung"),
die es nach dem Willen des Gesetzgebers der transsexuellen Person erlauben
soll, schon frühzeitig - seiner psychischen Befindlichkeit entsprechend
- in der Rolle des anderen Geschlechts aufzutreten (vgl. die Entwurfsbegründung
zum TSG unter Nr. 2.5). Die Vorwirkung der Vornamensänderung stellt
damit einen Fall der ausdrücklich vorbehaltenen anderweitigen gesetzlichen
Bestimmung im Sinne des Grundsatzes nach Paragraph 10 Abs. 1 TSG dar,
der die Rechtswirkungen der Geschlechtsumwandlung von der Durchführung
des Verfahrens nach Paragraphen 8 ff. TSG abhängig macht. Dabei kann
nicht zweifelhaft sein, daß die rechtlich anerkannte Vorwirkung
des Paragraph 1 TSG in vollem Umfang dem grundrechtlichen Schutz der Intimsphäre
nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG unterfällt.
Für das Auftreten in einer bestimmten Geschlechtsrolle ist nach allgemeinem
Verständnis die Anredeform ("Herr ..."/"Frau ...")
von zentraler Bedeutung. Deshalb fordert es die Achtung vor der in Paragraph
1 TSG vorgesehenen Rollenentscheidung, eine Person nach Änderung
ihres Namens ihrem neuen Rollenverständnis entsprechend anzureden
und anzuschreiben. Nur dieses Verhalten wird der geschilderten gesetzgeberischen
Absicht des Paragraph 1 TSG gerecht; nur diese Auslegung des Paragraph
1 TSG erscheint auch mit der Wertentscheidung der Art. 2 Abs. 1 i.V.m.
Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar.
3. Der Regelungsgehalt, den die hier angegriffenen Entscheidungen den
Paragraphen 1, 10 Abs.1 TSG beigelegt haben, wird weder dem TSG noch den
Grundrechten des Beschwerdeführerin gerecht.
a) Die Rechtsauffassung des LG, Paragraph 10 Abs. 1 TSG gebiete es, eine
transsexuelle Person nach bereits vollzogener Namensänderung, aber
noch vor dem Geschlechtswechsel ihrer personenstandsrechtlichen Geschlechtszuordnung
anzusprechen, wird schon dem Ausnahmevorbehalt des Paragraph 10 Abs. 1
TSG nicht gerecht. Zum anderen übergeht das Landgericht die Selbstverständlichkeit,
daß sich die Anrede einer Person (("Herr ..." bzw. "Frau
...") nach dem rechtlich anerkannten Selbstverständnis dieser
Person bezüglich ihrer selbst empfundenen Geschlechtszugehörigkeit
zu richten hat, die auch in dem ihr gerichtlich zuerkannten Vornamen zum
Ausdruck kommt. Damit verkennt das LG jedoch zugleich den grundrechtlich
geschützten Achtungsanspruch, der einer Vornamensänderung nach
Paragraph 1 TSG entgegenzubringen ist.
b) Das OLG räumt der Beschwerdeführerin zwar ein, daß
die Anpassung der Sprachgebrauchs an die Vornamensänderung der Achtung
ihrer Menschenwürde entspreche. Gleichwohl kommt es zu dem Ergebnis,
ein "einklagbarer Rechtsanspruch" bestehe insoweit nicht. Damit
läßt das Gericht ebenfalls eine grundsätzlich unrichtige
Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts der Beschwerdeführerin
aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG erkennen, die verfassungsrechtlich
keinen Bestand haben kann.
4. Da die angegriffenen Entscheidungen verfassungsrechtlichen Anforderungen
nicht genügen, sind sie aufzuheben. Die Sache wird an das LG zurückverwiesen
(Paragraphen 93c Abs. 2, 95 Abs. 2 BVerfGG).
Der Beschwerdeführerin sind ihre notwendigen Auslagen gemäß
Paragraph 34a Abs. 2 BVerfGG zu erstatten.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Limbach, Kruis, Winter
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