Coming-out
Coming-out bezeichnet primär den individuellen Prozess, sich seiner eigenen Empfindungen bewusst zu werden, dies gegebenenfalls dem näheren sozialen Umfeld mitzuteilen (zunehmend auch (Selbst-)Outing genannt) und im Endeffekt selbstbewusst mehr oder weniger offen zu leben.
Analog zur sexuellen Orientierung durchleben auch Menschen, denen das Schema der Heteronormativität in anderer Weise nicht gerecht wird, ähnliche Prozesse. Die gesellschaftliche Erwartung einer bestimmten sexuellen Orientierung ist also nicht der einzige mögliche Grund. Ähnlich wirken eingeschränkte bis fehlende Akzeptanz für sexuelle Vorlieben/Neigungen (z. B. Sadomasochisten), für weitere Formen geschlechtlichen Selbstverständnisses (Transvestiten), für mit der geschlechtlichen Identität nicht übereinstimmende biologische Zuordnung (Transgender), selbst für androgyne Menschen. Daraus ergeben sich teilweise weitere Fragekomplexe wie die nach Geschlechterrollen und Identitätsgeschlecht.
Coming-out als Prozess
Im Coming-out unterscheidet man zwei Phasen, das innere Coming-out und das äußere Coming-out. Das innere Coming-out umfasst den Teil des Prozesses bis zur Bewusstwerdung über eine bei der eigenen Person. Die Feststellung "Ich bin ...!" erfolgt zunächst für sich selbst. Diese Phase kann individuell unterschiedlich lange dauern, beginnt meist mit der Pubertät und kann sich teilweise über viele Jahre hinziehen.
Das äußere Coming-out ist dadurch geprägt, dass man allen oder ausgewählten Menschen des sozialen Umfeldes (oder manchmal auch darüber hinaus), meist beginnend mit nahen Verwandten und Freunden, die eigene Person explizit offenbart, die Feststellung "Ich bin ...!" erfolgt dann gegenüber anderen Menschen. Viele informieren allerdings nur einen Teil ihres sozialen Umfeldes.
Der Coming-out-Prozess ist nicht an ein bestimmtes Alter gebunden. Es gibt Fälle, in denen Menschen in relativ hohem Alter ihren Familien, Kollegen oder ihrem Freundeskreis offenbaren. Obwohl diese Menschen, im Gegensatz zu jüngeren, meist finanziell unabhängig sind und nicht von Pubertätsproblemen geplagt werden, haben sie andere Probleme, weil sie meist sehr lange ihrer Umgebung eine Fiktion gezeigt haben, die nur sehr schwer zu widerrufen ist. In vielen Fällen sind sie sogar verheiratet oder haben Kinder.
Wann immer ein Betroffener in eine fremde Umgebung kommt (neuer Arbeitsplatz, Wohnort oder fremde Menschen, die er nicht auf Anhieb abschätzen kann, weil sie zum Beispiel aus anderen Kulturkreisen stammen), stellt sich für ihn immer wieder neu die Frage, ob und wie er seine sexuelle Identität seiner Umgebung offenbart.
Es gibt kein definiertes Ergebnis für einen Coming-out-Prozess. Vom völlig offenen bis zum weitgehend zurückgezogenen Leben reichen die Schattierungen. Kriterium ist, ob der Betroffene innerlich seine sexuelle Orientierung akzeptiert hat und sich selbst nicht verleugnet. Jemand kann sich seiner homosexuellen Veranlagung bewusst sein oder sogar sexuelle Beziehungen zum selben Geschlecht haben und trotzdem Schuldgefühle oder Selbsthass empfinden (in der psychiatrischen Diagnostik "ichdystone Sexualorientierung" genannt).
Auf dem Land in Deutschland, Schweiz oder Österreich lebende homosexuelle Menschen haben es im Vergleich zu homosexuellen Menschen in den deutschen, schweizerischen, österreichischen Mittel-/Großstädten schwerer und suchen daher zunächst Informationen über Medien (Internet, Fernsehen,...). Erst wenn sie sich selbstsicher genug fühlen, offenbaren sie sich Vertrauenspersonen oder engen Freunden. Ein offenbarendes Gespräch mit Eltern oder Verwandten erfolgt häufig später und ist von den jeweiligen Familienverhältnissen abhängig.
Coming-out bei Migranten
Gerade homosexuelle Personen mit Migrationshintergrund stehen vor besonderen Schwierigkeiten bei ihrem Coming-out, die über das Maß an Schwierigkeiten von Personen ohne Migrationshintergrund noch deutlich hinausgehen. In vielen Kulturen, vor allem in den patriarchalisch geprägten, ist der Familienzusammenhalt enorm wichtig, gerade auch wegen der oft wirtschaftlich schwierigen Situation vieler Familien. Es ist für Betroffene dann besonders problematisch und traumatisch, wenn sie in der Folge des Coming-outs von der Familie verstoßen werden - was keine seltene Reaktion in den Familien mit Migrationshintergrund ist.
In vielen Kulturen sind die Erwartungen an das geschlechtsspezifische Rollenverhalten der Familienmitglieder viel stärker ausgeprägt als in Westeuropa, in dem die Emanzipation von Mann und Frau weit fortgeschritten ist. Je stärker die Erwartungen, umso herber die Enttäuschung, wenn diese dann nicht erfüllt werden, weil der Homosexuelle vom erwarteten Rollenverhalten abweicht.
In manchen Fällen wird ein schwuler Sohn von der Familie auch als "Schande" angesehen und in extremen Fällen kommt es hier sogar zu Gewalttaten zur Wiederherstellung der verloren geglaubten Ehre. Das Coming-out kann für einen Migranten bedeuten, in Lebensgefahr zu geraten. Viele Migranten verzichten daher darauf, Familienmitglieder einzuweihen.
Emotionale Aspekte
Aufgrund der normativen Erziehung entstehen bei homosexuellen Menschen zum Teil erhebliche Spannungen zwischen den Erwartungen der Umgebung an ihre Gefühle und den tatsächlich vorhandenen Gefühlen. Während zum Beispiel andere Jungs eine sexuelle Erregung beim Anblick von Mädchen verspüren, empfinden schwule Jungs in derselben Situation ganz anders. Das führt oft zu einem subjektiven Gefühl des Andersseins und auch des Alleinseins. Viele Homosexuelle glauben zunächst, ganz alleine und einzigartig zu sein mit ihren Gefühlen.
Vorausgesetzt, dass keine Verfolgung von Homosexuellen droht, können Lesben und Schwule dieses emotionale Dilemma dadurch auflösen, dass sie einsehen und akzeptieren, tatsächlich anders zu sein und darüber hinaus zu erkennen, dass die an sie von anderen herangetragenen Erwartungen für sie nicht bindend sind. Die Betreffenden lösen sich von den Rollenerwartungen ihrer Umgebung, sie emanzipieren sich von der Rolle als Heterosexueller. Das erfordert ein erhebliches Maß an Mut und Selbstvertrauen, da es auch das Eingeständnis der Zugehörigkeit zu einer Minderheit bedeutet, die zum Teil noch immer mit erheblichen Widerständen in Staat und Gesellschaft zu kämpfen hat.
Homosexuelle müssen je nach Region und Kulturkreis mit unterschiedlich großen Widerständen rechnen, die die Selbstfindung sehr erschweren können. Diese reichen von einfachen Ressentiments bis hin zu akuter Lebensgefahr vor allem in von der Scharia geprägten Regionen. Eine negative Reaktion der Umwelt oder auch nur die Erwartung einer solchen kann Stressreaktionen bei den Betroffenen auslösen, die bis zu extremen Konsequenzen führen können einschließlich der Selbsttötung. Eines der prominentesten Opfer, welches sich nach seinem unfreiwilligen Outing das Leben nahm, war der Mathematiker Alan Turing.
Besonders Jugendliche sind in solchen Fällen gefährdet: Zu den Pubertätsproblemen gesellen sich Fragen wie "Bin ich normal?", "Bin ich allein so?" Dies verdeutlicht auch die erhöhte Suizidversuchsrate bei jungen homosexuellen Menschen.
Es erfordert daher ein erhebliches Maß an Vertrauen der Betroffenen in ihre Umwelt, um die eigene sexuelle Orientierung anderen zu offenbaren. Manchmal schrecken Betroffene aus Angst vor einer möglichen negativen Reaktion vor dem Outing zurück, obwohl eine solche negative Reaktion tatsächlich gar nicht droht.
Anspielend einerseits auf die erheblichen emotionalen Belastungen, die mit dem Coming-out verbunden sind, und andererseits auf den Umstand, dass Homosexualität teilweise angeboren ist, pflegen manche Betroffenen die Redewendung: "Schwul ist man nicht, das hat man sich hart erarbeitet!".
Historische Entwicklung
Weltweit nimmt die Intensität der Verfolgung von Homosexuellen ab, insbesondere die staatliche Verfolgung ist in den vergangenen 50 Jahren besonders in Europa stark zurückgegangen. Daher ist das Coming-out heute leichter als früher.
Gleichzeitig existieren heute im Internet Plattformen mit hoher Reichweite und umfangreichem Informationsangebot. Hier können Betroffene bequem und anonym Informationen einholen, ohne sich selbst zu gefährden. Darüber hinaus ist ein gefahrloser Austausch mit anderen Menschen möglich und sogar Beratung, wodurch die Unsicherheit der Betroffenen abgebaut werden kann. Das war früher nicht möglich, da man sich oft schon mit dem Wunsch nach Informationen über Homosexualität angreifbar gemacht hatte.
Entwicklung des Begriffs
Die aus dem Englischen übernommene Redewendung "Coming out", die im englischen Ursprung sowohl den Auftritt einer Debütantin bei ihrer Volljährigkeit als auch den Prozess, ein Versteck (Schrank) zu verlassen ("Coming out of the closet"), bezeichnet, hat in der deutschen Sprache eine feste Bedeutung erlangt, die durch keine anderen deutschen Wörter zu ersetzen ist. Dabei hat das eingedeutschte Wort outen auch eigene, weitere Bedeutungen erhalten:
- (transitiv): jemanden outen oder Zwangsouten ist die auch in der lesbischen und schwulen Community umstrittene, gegen den Willen des Betroffenen erfolgende Bekanntgabe seiner sexuell abweichenden Orientierung. Im Allgemeinen gilt die Praxis als verpönt. Sie wird aber eher akzeptiert und dann als eine Art Notwehr betrachtet, wenn der Betroffene sich z. B. in der Politik aktiv gegen Homosexuelle engagiert. Näheres dazu unter Outing.
- sich outen wird oft in einem sehr allgemeinen Umfeld benutzt, um scherzhaft bekannt zu geben, dass man einer in der jeweiligen Gruppe verpönten Haltung, Geschmacksrichtung oder ähnlichem zuneigt. Beispiel: In einer Jugendgruppe sagt jemand: Ich oute mich mal als Klassikliebhaber.
- outen wird umgangssprachlich inzwischen auch für die Bekanntgabe beliebiger privater biografischer Momente verwendet, z. B.: Ich oute mal etwas aus meiner Ausbildungszeit.
Hilfsangebote und Selbsthilfe
Eine positive Reaktion der Umwelt wirkt auf die Betroffenen erleichternd. Sie fühlen sich oft befreit und in ihrem Selbstvertrauen bestätigt. Sie neigen dazu, optimistisch in die Zukunft zu blicken.
Deswegen gibt es mittlerweile im deutschsprachigen Raum in allen größeren Städten Gruppen und Organisationen, die Hilfe und Selbsthilfe anbieten. Für ländliche Gegenden sind überregionale Organisationen, meist über Webseiten oder Telefondienste, tätig.
Für homosexuelle und sadomasochistische Jugendliche werden oft spezielle Coming-out-Gruppen angeboten, in denen informations- und hilfesuchende Jugendliche alle Fragen zum Thema besprechen können und darüber hinaus oft auch Anschluss zu Gleichgesinnten finden.
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Datum der letzten Änderung: Jena, den : 27.09.2013