Das Spektrum der Sexualstörungen


 
Es gibt eine Vielzahl von Beeinträchtigungen des sexuellen Erlebens und Verhaltens, die für die Betroffenen mit Leidensdruck verbunden sind und/oder deren soziale Integration gefährden. Hierzu gehören vor allem folgende Störungsgruppen:

  1. Störungen der sexuellen Funktion
  2. Störungen der sexuellen Entwicklung
    1. Störung der sexuellen Reifung
    2. Störung der sexuellen Orientierung
    3. Störung der sexuellen Identität
    4. Störung der sexuellen Beziehung
  3. Störungen der Geschlechtsidentität
  4. Störungen der sexuellen Präferenz (Paraphilien)
  5. Störungen des sexuellen Verhaltens (Dissexualität)
  6. Störungen der sexuellen Reproduktion

1.Störungen der sexuellen Funktion

Die sexuelle Reaktion lässt sich in die Phasen Appetenz, Erregung, Orgasmus und Entspannung gliedern, und jede dieser Phasen kann als solche gestört sein. Sämtliche Sexualstörungen wie auch psychische und Verhaltensstörungen weisen sowohl biologische als auch psychologische und soziologische Aspekte auf, sodass allein eine integrale Sicht dieser Aspekte eine zutreffende Beschreibung und somit wirksame Behandlung verspricht. Da sexuelle Funktionsstörungen nicht nur den Menschen mit den jeweiligen Symptomen allein betreffen, sondern immer die Zufriedenheit des jeweiligen Partners bzw. der Partnerin beeinträchtigen, sollte Behandlung prinzipiell mit beiden Partnern durchgeführt werden. Hinzu kommt, dass sämtliche Funktionsstörungen sowohl unabhängig von anderen Störungen oder Erkrankungen auftreten können als auch als Folge von anderen Erkrankungen sowie deren Behandlung.

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2. Störungen der sexuellen Entwicklung

Dieser Indikationsbereich umfasst Störungen, die im Rahmen der somatosexuellen, psychosexuellen und soziosexuellen Entwicklung über die gesamte Lebensspanne auftreten und die Betroffenen in ihrer sexuellen Interaktionsmöglichkeit beeinträchtigen, bis hin zur Unmöglichkeit sexueller Kontaktaufnahme.
Diese Störungen führen bei den Betroffenen häufig sekundär zur Ausprägung von anderen psychischen und Verhaltensstörungen, die dann eher als Vorstellungsgrund angeführt werden als die ursächliche Problematik selbst. Mutmaßlich bleiben die meisten sexuellen Entwicklungsstörungen selbst unberücksichtigt und werden allein auf der (sekundären) Symptomebene behandelt, u.a. deshalb, weil die Betroffenen in der Regel selbst nicht benennen können, dass ihre Schwierigkeiten eigentlich oder auch im Bereich ihrer sexuellen Entwicklung liegen.
Dies gilt um so mehr, wenn die Problematik in eine gesamte Entwicklungsverzögerung (Retardierung) eingebettet ist (u.a. körperliche und geistige Entwicklungsstörung). An dem Bedürfnis nach sexueller und partnerschaftlicher Kontaktaufnahme ändert Retardierung mithin nichts.

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2. 1. Störung der sexuellen Reifung

Unter der Rubrik "Störung der sexuellen Reifung" werden vor allem psycho- und soziosexuelle Auswirkungen einer verzögerten oder ausgebliebenen körperlichen Geschlechtsreife (z.B. "pubertas tarda") verstanden. In vielen Fällen verursacht dies Irritationen der geschlechtlichen und auch der sexuellen Identitätsbildung und führt anschließend auch zu Entwicklungsverzögerungen auf der psycho-/soziosexuellen Ebene, durch welche die Betroffenen in ihrer sexuellen Entwicklung zurückbleiben und Schwierigkeiten haben, mit altersentsprechenden Partnern sexuelle Beziehungen aufzunehmen.
Besonders gravierend tritt eine Störung der sexuellen Reifung zutage, wenn es zu sexuellen Übergriffen auf Kinder kommt, weil hier ein Erwachsener aufgrund einer somato-, psycho- oder soziosexuellen Retardierung altersadäquate Sexualpartner nicht für sich gewinnen kann und deswegen ersatzweise auf Kinder übergreift.

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2. 2. Störung der sexuellen Orientierung

Die sexuelle Orientierung auf das männliche und/oder weibliche Geschlecht ist eine Achse der menschlichen sexuellen Präferenzstruktur, die ganz unabhängig von der jeweiligen Ausprägung (gleich, beid oder gegengeschlechtlich) nicht als Krankheit oder Störung aufzufassen ist, sondern als mögliche Variation menschlicher Sexualität.
Dennoch kann es zu problemhaften oder krankheitswerten Störungen kommen, die auf eine konflikthafte Verarbeitung und unzureichende Integration der jeweiligen sexuellen Orientierung zurückgehen, worunter die Betroffenen leiden.
Die Betroffenen fühlen sich z.B. dadurch belastet, dass sie auch lange nach Abschluss der Adoleszenz nicht wissen, ob sie sexuell auf das eigene oder das Gegengeschlecht orientiert sind. Dadurch sehen sie sich außerstande, mit anderen Menschen spannungs- und angstfrei in Kontakt zu treten, weil die innere Auseinandersetzung über die eigene sexuelle Orientierung und die des Kontaktpartners überwertigen Charakter besitzt und die Gedanken und Gefühlswelt stark vereinnahmt. Es kommt zum fortwährenden Grübeln über die Frage der eigenen sexuellen Orientierung und zu der Befürchtung, andere Menschen könnten ihrerseits Hypothesen über die eigene sexuelle Orientierung aufstellen bzw. eine wie auch immer geartete Ausformung der sexuellen Orientierung identifizieren oder unterstellen.
Zu betonen ist in diesem Zusammenhang, dass diese Symptomatik trotz phänomenologischer Ähnlichkeit psychopathologisch klar von psychotischen Wahnvorstellungen abgrenzbar ist.
Die häufigste Erscheinungsform der sexuellen Orientierungsstörung besteht in einer ich-fremden gleichgeschlechtlichen Orientierung (sog. "egodystone Homophilie"): Nicht zuletzt vor dem soziokulturellen Hintergrund einer sexuell gegengeschlechtlich orientierten Bevölkerungsmehrheit wird entweder befürchtet, homosexuell orientiert zu sein, oder eine realistisch wahrgenommene eigene Homosexualität kann nicht akzeptiert, geschweige denn in die eigene sexuelle Identität (s.u.) integriert werden.
In der Folge kommt es zu Verleugnungs- bzw. Verdrängungsversuchen, die jedoch meist von geringer Halbwertzeit sind und oft letztendlich zur kategorischen Ablehnung der eigenen sexuellen Orientierung führen, mit dem resultierenden Wunsch, diese zu ändern.
Oft werden gegengeschlechtliche sexuelle Beziehungen aufgenommen, die jedoch (mitunter trotz "technischer" sexueller Funktionalität) wegen sexualpräferenzieller Inkompatibilität ohne innere Resonanz bzw. ohne emotionalen Niederschlag bleiben und deswegen nicht aufrecht erhalten werden können. In vielen Fällen werden sexuelle Kontakte ausschließlich im Kontext anonymer, (semi-)professioneller Prostitution gesucht, was für die Betroffenen sowohl mit einem deutlich erhöhten Risiko verbunden ist, sich mit sexuell übertragbaren Krankheiten zu infizieren (vgl. HIV), als auch Opfer von Gewalthandlungen und Eigentumsdelikten zu werden, wie sie durch die "Ausnutzung einer sexuellen Neigung" begünstigt und begangen werden. Seit fast hundert Jahren dokumentiert ist hier vor allem die Erpressung von Homosexuellen durch Prostituierte und andere Personen, die damit drohen, die Homosexualität des Betroffenen zu veröffentlichen. Verstärkt wurde dieser Deliktbereich durch die strafrechtliche Pönalisierung homosexueller Kontakte, die in Deutschland immerhin bis 1970 bestand. Aber auch andere Delikte wie Raub und Körperverletzung sowie "Taschen-, Trick- und Beischlafdiebstahl" treffen häufiger Personen, die homosexuelle Kontakte mit anonymen Gelegenheitspartnern suchen, als diejenigen, die (überwiegend) in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften leben. Im schlimmsten Fall einer Störung der sexuellen Orientierung kommt es zum vollständigen sozialen und soziosexuellen Rückzug und zu resultierender Isolation, Vereinsamung und damit vor allem auch zu syndyastischer Deprivation, was dann wiederum das Risiko erhöht, psychosomatische Störungen auszubilden.


 
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2. 3.Störung der sexuellen Identität

Unter "Störung der sexuellen Identität" wird eine Verunsicherung bezüglich der eigenen Männlichkeit bzw. Weiblichkeit - nicht bezüglich der eigenen Geschlechtszugehörigkeit - verstanden.
Wenn sich die geschlechtliche Identität in der Frage ausdrückt: "Bin ich ein Mann oder eine Frau?", drückt sich die sexuelle Identität in der Frage aus: "Bin ich richtig, ausreichend bzw. genügend männlich oder weiblich?" Es geht also für die Betroffenen darum, ob sie sich selbst auch und besonders im Sinne sexueller Attraktivität als "richtiger Mann" oder "richtige Frau" wahrnehmen und annehmen können.
Wo bei der geschlechtlichen Identität die Frage sexueller Attraktivität keine primäre Rolle spielt, geht es bei der sexuellen Identität um die Möglichkeit, die eigenen geschlechtsbezogenen Eigenschaften in ein sexuelles Selbstkonzept integrieren und kongruent in geschlechtstypisches Sexualverhalten umsetzen zu können.
Bei einer Störung der sexuellen Identität kann die Befürchtung, in sexueller Hinsicht nicht zu genügen, nicht nur partnerschaftliche Sexualbeziehungen verhindern, sondern unter Umständen auch, dass biopsychosozialer Grundbedürfnisse eingelöst werden. Die Aufnahme tragfähiger, kontinuierlicher, sexueller Beziehungen kann vor allem Männern erschwert sein, weil Selbstzweifel und Versagensängste bezüglich der eigenen sexuellen Zulänglichkeit und "Potenz" zu stark und dadurch zu angstauslösend sind. Es handelt sich dabei um Störungen der männlichen Identität mit entsprechenden Folgen für die Selbstkategorisierung und die innere Einstellung zur männlichen Geschlechtsrolle (mit ihren aktuellen kulturellen Implikationen und auch geschlechtsstereotypen Vorstellungen) sowie das Vertrauen in die (sexuell) funktionale Vollwertigkeit als "Mann". Diese Ausprägung kann als "soziosexuelle Selbstunsicherheit" bezeichnet werden, die weit über das Ausmaß allgemeiner, d.h. überwindbarer "Schüchternheit gegenüber dem anderen Geschlecht" hinausgeht und ein Grund dafür sein kann, dass Betroffene entgegen ihren Wünschen über lange Zeiträume partnerschaftlich ungebunden bleiben. Die Folge ist eine "Störung der Paarfähigkeit", d.h. die starke Begrenzung innerer Möglichkeiten bis hin zur gänzlichen Unfähigkeit, emotional reife Partnerschaften einzugehen, d.h. Beziehungen, die auf einer egalitär-komplementären Rollenverteilung fußen; ohne stabiles "Ich" lässt sich kein dauerhaftes "Wir" entfalten (Beier et al. 2001: 372).
Eine Störung der sexuellen Identität kann andererseits auch den Hintergrund für das Bedürfnis darstellen, seriell immer neue Sexualpartner "erobern" und gewinnen zu wollen bzw. zu müssen, ohne sich auf tragfähige, partnerschaftliche Beziehungen einlassen zu können und ohne durch die immer neuen "Eroberungen" ein Gefühl innerer Erfüllung oder Befriedigung empfinden zu können (vgl. früher sog. "Don-Juanismus" bzw. "Nymphomanie"). Dieses Muster kann sowohl vorliegen, wenn die sexuellen Interaktionen ohne Funktionsstörungen und mit Erregungshöhepunkten verlaufen; es kann aber auch auftreten, wenn es bei den Betroffenen im Rahmen der sexuellen Interaktionen mit den frisch "eroberten" Sexualpartnern immer wieder zu sexuellen Funktionsstörungen kommt. Die Vorstellung "beim nächsten Mal wird alles anders" ist dann handlungsleitend, und jeder neue Anlauf wird als Selbstheilungsversuch gesehen.
Häufig schildern Betroffene im Kontext dieser Problematik auch Phänomene wie "Sexsucht" oder "Hypersexualität" oder beklagen die exzessive und ruinöse Nutzung von Prostitutions- oder Telefonsex-Kontakten. Hintergrund kann hier sowohl eine Entkoppelung der Lust von der Beziehungsdimension der Sexualität sein als auch eine brüchige sexuelle Identität, die durch immer neue "Eroberungen" bzw. immer neue sexuelle Fremdbestätigung fortlaufend stabilisiert werden muss. Betroffene entwickeln dysfunktionale Lösungsstrategien für ihre als leidvoll empfundene sexuelle Identitätsproblematik, indem sie sich suchtartig immer wieder psychophysiologische Verstärkungserlebnisse im Kontext sexueller Lust verschaffen, ohne solche mit ihren zwischenmenschlichen (psychosozialen) Grundbedürfnissen in Verbindung bringen zu können. Das suchttypische Ausbleiben tief empfundener Befriedigung führt zu stereotypen und für die Betroffenen häufig sogar nicht nur als leidvoll, sondern auch als ich-fremd erlebten Wiederholungen der bekannten Verhaltensweisen, ohne jemals ein erfüllendes Ergebnis zu zeitigen. Ein Teufelskreis, der für Betroffene nicht nur soziale, sondern auch partnerschaftliche, berufliche und damit wirtschaftliche Desintegration bedeuten kann , vor allem aber syndyastisch frustrierend bleibt.
Neben diesen Versuchen eine Störung der sexuellen Identität durch sexuelle Fremdbestätigung zu kompensieren, kann die hier aufgezeigte Problematik auch dazu führen, dass eine Stabilisierung der brüchigen sexuellen Identität sowohl durch Medikamente zur Unterstützung von Sexualfunktionen als auch durch körperverändernde Maßnahmen gesucht wird. Viele Männer mit einer selbstunsicheren sexuellen Identität verschaffen sich erektionsfördernde Medikamente, auch bzw. obwohl sie keine manifeste Erektionsstörung haben. Das Gefühl der Sicherheit des sexuellen Funktionierens soll die fragile sexuelle Identität stabilisieren.
Auf der Ebene der Körperlichkeit bildet physische Attraktivität auch für Männer zunehmend einen sozialen Statusfaktor und Bewertungsmaßstab, wie seit jeher die "Figur" der Frau. Durch exzessiv betriebenes sog. "Fitness" bzw. "Workout" oder sogar "Bodybuilding" versuchen betroffene Männer, ihre irritierte oder gestörte sexuelle Identität durch Muskelaufbau zu kompensieren. Beim professionellen "Bodybuilding" geht es dabei nicht um gesundheitliche Aspekte, sondern um so genanntes "athletisches" Aussehen, d.h. um muskulöse Proportionen, wie sie natürlicherweise nicht vorkommen, sondern ausschließlich unter Zuhilfenahme pharmazeutischer Agenzien und durch die Aufwendung der gesamten Freizeit als motorisch dysfunktionale "Fleischberge" zustande gebracht werden. Die Pharmazeutika führen ihrerseits sowohl zu Wesens und Affektveränderungen, z.B. Depressivität/Aggressivität, als auch zu organischen und sexuellen Funktionsstörungen, die die Kontaktaufnahme zu potenziellen Partnerinnen oder Partnern wiederum erschweren können.
Gravierendere Versuche eine Störung der sexuellen Identität durch geschlechtstypisierende Veränderungen der eigenen Körperlichkeit zu kompensieren, stellen schließlich chirurgischoperative, körperverändernde Maßnahmen dar, die bei Männern von Brust und Gesäß-Implantaten bis hin zu Penisverlängerungen reichen können, welche als "individuelle Gesundheitsleistung" von der kosmetischen Chirurgie und der chirurgischen Urologie quasi wie "Wellness-Produkte" angeboten werden. Bei Frauen kommen vorwiegend kosmetischchirurgische Gesichts- und Figur"korrekturen" vor, die von Lippen- und Brustvergrößerungen bis hin zur operativen oder sogar "lasergestützten Scheidenverjüngung" reichen (sog. "Intimchirurgie"). Der Umstand, dass all diese Leistungen einen eigenen industrieförmigen Markt darstellen und von Ärzten unter dem Deckmantel präventiver und kurativer Versorgung offensiv beworben und verkauft werden, verschleiert den Blick auf die möglicherweise im Hintergrund liegende Problematik der sexuellen Identität. Häufig ist zu beobachten, dass sich Betroffene nach einer ersten Operation weiteren unterziehen, weil zum einen eine Hemmschwelle gefallen ist, sie zum anderen aber - bewusst oder unbewusst - bemerken, dass die kosmetisch-medizinische Veränderung des eigenen Körpers nicht zu einer Stabilisierung ihrer brüchigen sexuellen Identität geführt hat.

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2. 4.Störung der sexuellen Beziehung

Eine Störung der sexuellen Beziehung liegt vor, wenn eine Person darunter leidet, dass sie über einen längeren Zeitraum außerstande ist, sexuelle Beziehungen aufzunehmen oder aufrechtzuerhalten. Der hieraus resultierende Leidensdruck ist häufig ein negativer Einflussfaktor auf die allgemeine und gesundheitliche Lebensqualität. Die Gründe für diese Probleme können sowohl im Spektrum anderer Sexualstörungen liegen als auch in psychischen und Verhaltensstörungen, welche Aufnahme und/oder Aufrechterhalten sexueller Beziehungen erschweren oder unmöglich machen. Eine Störung der Sexualbeziehung ist damit so gut wie immer sekundär, das bedeutet, die unmögliche oder gestörte sexuelle Beziehung ist meistens eine soziosexuelle Ausdrucksform eines anderen, überwiegend ursächlichen Problems.
Wenn beispielsweise eine Neigung zu abnormen sexuellen Stimuli oder Betätigungen die Aufnahme oder Aufrechterhaltung sexueller Beziehungen stört oder verunmöglicht - z.B. wenn ein Mann, der gern frauentypische Unterwäsche zur sexuellen Erregung trägt, keine Frau findet, die bereit ist, sich darauf einzulassen - , dann ist diese Störung primär durch eine Störung der Sexualpräferenz verursacht - im Beispielfall durch einen sog. "Transvestitischen Fetischismus".
Als eigentlicher Kernbereich der sexuellen Beziehungsstörung lässt sich eine Störung des syndyastischen Erlebens diagnostizieren, die aus einer Nicht-Integration der drei Dimensionen der Sexualität resultiert, etwa weil diese Dimensionen voneinander entkoppelt ausgelebt werden.
Wird beispielsweise die Lust von der Beziehungsdimension abgetrennt, kann sich dies in einer Überbetonung der Lust im Verhältnis zur Beziehungsdimension darstellen, die häufiger bei Männern anzutreffen ist. Diese sind in ihrem sexuellen Erleben so auf Lust und deren Befriedigung fixiert, dass sie diese als nicht verknüpft mit einer partnerschaftlichen Beziehung erleben. Die Partnerinnen oder Partner reagieren dann häufig mit sexuellem Rückzug, weil sie sich im Rahmen der sexuellen Interaktionen von ihren Partnern "nicht gemeint" oder mitunter sogar "missbraucht" fühlen.
Dieser Entkoppelung findet auch bei einer ausschließlich pharmazeutischen Symptombehandlung von Erektionsstörungen (z.B. PDE5-Hemmer) ohne sexualtherapeutische Einbettung und ohne Einbeziehung von Partnerinnen oder Partnern statt und kann eine sexuelle Beziehungsstörung noch ungewollt verstärken. Ein Grund, warum viele Männer erektionsfördernde Medikamente nur über kurze Zeiträume nutzen, liegt - neben den selbst zu tragenden Kosten - auch darin, dass die Partnerinnen signalisieren, dass sie sich bei der Fokussierung ihres Mannes auf seine Erektion und damit auf sein Lusterleben in ihren eigentlichen (syndyastischen) Bedürfnissen nach Beziehung, Nähe und Geborgenheit nicht wahrgenommen, unberücksichtigt, vernachlässigt oder sogar missachtet fühlen.
Auch andersherum kann eine entkoppelte Ein-Dimensionalität der Sexualität zu einer sexuellen Beziehungsstörung führen, z.B. dann, wenn eine Frau ihre (syndyastischen) Bedürfnisse, wahr und angenommen zu werden, Geborgenheit, Vertrauen und Nähe zu erleben, vollständig von der Lustdimension der Sexualität entkoppelt und infolgedessen jede Form von genitaler bzw. stimulativer sexueller Interaktion verweigert, was wiederum zu Entbehrungsgefühlen bei ihrem Partner bzw. ihrer Partnerin führen kann.
Auch wenn die Fortpflanzungsdimension einseitig überbetont wird, kann dies zu einer Störung führen, etwa dann, wenn ein Partner sexuelle Kontakte ausschließlich zur Fortpflanzung anstrebt, der andere Partner jedoch den Kinderwunsch nicht teilt und infolge dessen z.B. Geschlechtsverkehr verweigert. Nicht selten drückt sich eine solche Form einer sexuellen Beziehungsstörung dann auch wieder selbst in ausbleibenden sexuellen Reaktionen bzw. in sexuellen Funktionsstörungen aus.
Auch das von partnerschaftlich gebundenen Betroffenen als bedrängend geschilderte Bedürfnis des anderen Partners, Partnertausch-Börsen, sog. "Swinger-Clubs", zu besuchen oder nach wiederholten "Seitensprüngen", kann auf eine Störung der sexuellen Beziehung hindeuten, wenn die Betroffenen aufgrund syndyastischer Deprivation versuchen, sich immer neue sexuelle Bestätigung von immer neuen Sexualpartnern zu verschaffen, ohne dadurch jemals eine Befriedigung ihrer eigentlichen - syndyastischen - Bedürfnisse zu erleben.
Gerade auch in solchen Konstellationen wird der paarorientierte Behandlungszugang der Syndyastischen Sexualtherapie besonders plausibel.

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3. Störungen der geschlechtlichen Identität

Zu diesem Störungsbild gehören Verunsicherungen, Irritationen und Missempfindungen bezüglich der eigenen Geschlechtszugehörigkeit. Prägnant ist das innerliche Gefühl, entgegen dem eigenen biologischen Geburtsgeschlecht dem anderen Geschlecht anzugehören, also im "falschen" Körper leben zu müssen, woraus der Wusch entsteht, diesen Zustand zu ändern. Innerhalb dieser Störungsgruppe gibt es verschiedene Abstufungen und Ausprägungen, die unterschiedliche Hintergründe haben können und unterschiedlich behandelt werden müssen, weshalb diese Beschwerden unter dem Oberbegriff Geschlechtsidentitätsstörungen zusammengefasst werden. Vorübergehendes Unwohlsein im eigenen Geschlecht, Unzufriedenheit und Unsicherheit bezüglich der eigenen sozialen Geschlechtsrolle sowie evtl. kosmetisch oder anders begründete Bedürfnisse nach körperverändernden Maßnahmen haben mit dieser Störungsgruppe nichts zu tun. Personen mit tatsächlichen Geschlechtsidentitätsstörungen bedürfen in aller Regel einer spezialisierten psychotherapeutischen Behandlung, wobei das Therapieziel nicht in einer "Bekämpfung oder Umkehrung" des Wunsches nach einem Geschlechtswechsel besteht, sondern ausschließlich darin, den Betroffenen die Möglichkeit zu bieten, sich über einen längeren Zeitraum ergebnisoffen und differenziert mit der eigenen Geschlechtsidentität auseinanderzusetzen Gleichzeitig dient eine solche psychotherapeutische Begleitung dazu, das eigene Leben in der eigentlich empfundenen Geschlechtszugehörigkeit in allen sozialen Bereichen auszuprobieren bzw. sich selbst im eigentlich empfundenen Geschlecht sozial zu erproben (sog. "Alltagstest") und die dabei auftretenden Eindrücke, Erlebnisse und Empfindungen mit sachverständiger Hilfe und Beratung verstehen und verarbeiten zu können.
Die stärkste und irreversible Ausprägungsform einer Geschlechtsidentitätsstörung wird als Transsexualität bezeichnet. In diesem Fall liegt eine biographisch überdauernde, unumkehrbare bzw. endgültige Desintegration der eigenen geschlechtlichen Körperlichkeit vor, die deshalb in der Regel auch, neben der notwendigen psychotherapeutischen Begleitung, körperverändernd behandelt werden muss, etwa durch gegengeschlechtliche Hormongabe und ggf. geschlechtsumwandelnde Operationen. Weniger gravierende, das heißt nichttranssexuelle Ausprägungen von Geschlechtsidentitätsstörungen brauchen hingegen nicht mit aufwendigen und risikoreichen körperverändernden Maßnahmen (Hormone, Operationen) behandelt zu werden, sondern können im Rahmen einer spezialisierten Psychotherapie wie oben beschrieben affirmativ begleitet werden.

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4. Störungen der sexuellen Präferenz (Paraphilien)

Unter dieser Bezeichnung werden Störungsbilder verstanden, bei denen die betroffenen Personen unter abweichenden sexuellen Impulsen (Paraphilien) leiden. Das bedeutet, dass Personen, die über abweichende sexuelle Neigungen verfügen, jedoch nicht darunter leiden, auch nicht als gestört oder behandlungsbedürftig angesehen werden, solange sie weder andere noch sich selbst durch ihre abweichenden sexuellen Bedürfnisse beeinträchtigen oder gefährden. Zu solchen Paraphilien, die überwiegend Männer betreffen, gehört zum Beispiel die ausschließliche oder überwiegende sexuelle Erregbarkeit mit und/oder durch Gegenstände(n) wie Schuhe, Strümpfe, Wäsche etc. (sog. "Sexueller Fetischismus") oder die Vorliebe, frauentypische Kleidungsstücke zu tragen (z.B. Seidenstrümpfe und Dessous), weil dies als sexuell erregend erlebt wird (sog. "Transvestitischer Fetischismus"). Weiter gehört zu dieser Gruppe z.B. das Erleben sexueller Erregung durch das Ausüben oder Erdulden von Macht und Ohnmacht, Dominanz und Unterwerfung sowie durch das Beibringen oder Erleiden von Schmerzen (sog. "Sexueller Sado-/Masochismus"), das Einbeziehen von Fäkalien in die sexuelle Interaktion (sog. "Uro-/Koprophilie") sowie z.B. auch das Erleben sexueller Erregung durch das Abschnüren der Sauerstoffzufuhr (sog. "Hypoxyphilie") usw. Auch die sexuelle Erregbarkeit durch vorpubertäre Kinderkörper (sog. "Pädophilie") gehört zur Gruppe der Präferenzstörungen, solange es durch die entsprechenden Empfindungen nicht zu tatsächlichen, d.h. realisierten sexuellen Handlungen mit Kindern kommt. In einem solchen Fall würde man von pädosexuellen Handlungen bzw. von Pädosexualität (Dannecker 1987) sprechen, die damit diagnostisch in die Kategorie der "Sexuellen Verhaltenstörungen" (Dissexualität) fallen.
Gleiches gilt für die Neigung, zur eigenen sexuellen Erregung andere Menschen in intimen Situationen gezielt zu beobachten (sog. "Voyeurismus") sowie für den Drang, die eigenen Genitalien vor Frauen und Kindern zu entblößen bzw. zu präsentieren und ggf. dabei zu masturbieren (sog. "Exhibitionismus"). Solange die jeweiligen Bedürfnisse und Impulse sich in der Phantasie der Betroffenen abspielen bzw. nicht die sexuelle Selbstbestimmung anderer Menschen beeinträchtigen, sind diese Neigungen den sexuellen Präferenzstörungen (Paraphilien) zuzuordnen. Erst wenn entsprechende Impulse in reales, fremdbeeinträchtigendes und damit dissexuelles Verhalten umgesetzt werden, verlassen diese Neigungen den Bereich der bloßen sexuellen Präferenzstörungen und werden (ggf. zusätzlich) unter der Kategorie der sexuellen Verhaltensstörungen (Dissexualität, s.u.) kodiert.
Nach bisherigem sexualwissenschaftlichen Erkenntnisstand und aufgrund aller verfügbaren Daten muss davon ausgegangen werden, dass sich paraphile Impulsmuster in der Pubertät manifestieren und dann im weiteren Leben unveränderbar sind. Sie sind Schicksal und nicht Wahl: Keiner hat sich seine Präferenzen ausgesucht, sondern diese konstituieren sich in einem bislang noch nicht verstandenen Prozess, der keine kausale Ursachenverknüpfung möglich macht (etwa in dem Sinne, dass Männer mit pädophiler Neigung als Kinder sexuell missbraucht worden seien - dies trifft beispielsweise nur auf einen kleinen Teil der Betroffenen zu).
Dies macht gerade erforderlich, dass Betroffene sich mit diesen inneren Erlebensanteilen "arrangieren" müssen und dadurch mehr oder weniger stark nicht nur mit Selbstzweifeln konfrontiert sind, sondern vor allem mit der Frage, ob ein Partner oder eine Partnerin sie wirklich akzeptieren würde bzw. könnte. Diese Verunsicherung kann das syndyastische Erleben ("Kann ich beim anderen wirklich Annahme finden?") so stark tangieren, dass sie das Anknüpfen von Beziehungen erschwert oder bestehende Partnerschaften besonders gefährdet.

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5. Störungen des sexuellen Verhaltens (Dissexualität)

Unter dieser Bezeichnung werden sämtliche sexuellen Verhaltensweisen zusammengefasst, bei denen das Wohl und die sexuelle Selbstbestimmung anderer Menschen beeinträchtigt oder geschädigt wird und die aus diesem Grunde strafrechtlich verfolgt werden können. Insgesamt sind mit dieser Störungsgruppe - unabhängig von ihrer strafrechtlichen Relevanz oder Verfolgbarkeit - sämtliche sexuellen Übergriffe, ob psychisch oder physisch, gegen die sexuelle Selbstbestimmung gemeint, die unter dem Begriff  Dissexualitäst zusammengefasst werden.
Störungen des Sexualverhaltens beginnen mit sexuell motiviertem, gezieltem Aufsuchen von Situationen, in denen andere Menschen (zur eigenen sexuellen Erregung) in intimen Situationen beobachtet werden können. Dabei werden zur Ermöglichung dieser sog. voyeuristischen Beobachtungen mitunter bewusst und willentlich auch Grenzen der Privatsphäre und des Hausfriedens überschritten (Betreten von Privatgrundstücken, Nutzung von Leitern vor Fenstern, auf Dächern, Besteigen von Balkonen etc.). Zur Gruppe der sexuellen Verhaltensstörungen gehört außerdem das bewusste sichtbare Entblößen und ggf. masturbatorische Präsentieren des Genitales (überwiegend vor Frauen und/oder Kindern) sowie das uneinvernehmliche Berühren oder Anfassen (überwiegend von Frauen oder Kindern) im Brust oder Perigenitalbereich in der Öffentlichkeit.
Des Weiteren können sich Störungen des Sexualverhaltens in sexuell motivierter Belästigung via Post, E-Mail, SMS, Telefon oder direkter (obszöner) Ansprache von Opfern ausdrücken. Dieses Problemverhalten kann sich ausweiten zum - auch räumlichen - sexuell motivierten Nachstellen und Verfolgen von Opfern, dem sogenannten Stalking. Stalking stellt eine Form von sexueller Verhaltensstörung dar, bei der eine Person die vergangene, gegenwärtige oder nur imaginierte sexuelle Beziehung zu einer anderen Person gegen deren Willen aufrechtzuerhalten oder (wieder)herzustellen versucht, indem sie die "begehrte" Person telekommunikativ oder real verfolgt, bedroht, belagert oder sogar tätlich angreift und damit in einem Ausmaß belästigt, das die "begehrte" Person in ihrer freien Lebensführung erheblich beeinträchtigt und einschränkt. In der angloamerikanischen Literatur werden die Täter als "intimacyseeking stalkers" bezeichnet, was zutreffend auf die auch hier beteiligte Beziehungsdimension der Sexualität verweist und damit einem Versuch entspricht, eine - auch syndyastische - Beziehung gegen den Willen des Opfers zu erzwingen. In der überwiegenden Zahl der Fälle werden Frauen von Männern verfolgt, wohingegen Männer - die zwar viel seltener von Stalking betroffen sind - etwa gleich häufig von Frauen oder Männern verfolgt werden. In ca. drei Vierteln der Fälle kennen die Opfer ihren Verfolger. Die größte Gruppe der Verfolger rekrutiert sich aus ehemaligen Intimpartnern.
Zu den sexuellen Verhaltensstörungen zählen darüber hinaus auch Versuche oder die Durchführung sexueller Handlungen vor, an oder mit Kindern (sog. "pädosexuelle Handlungen", strafrechtlich: "Sexueller Missbrauch von Kindern") oder Jugendlichen oder sonstigen Personen, die in die sexuellen Handlungen nicht einwilligen können. Die Endstrecke sexueller Verhaltensstörungen bilden schließlich alle anderen expliziten Sexualstraftaten von "sexueller Nötigung" und "Vergewaltigung", bis hin zur "sexuell motivierten Tötung", wie sie im dreizehnten Abschnitt des Deutschen Strafgesetzbuchs (StGB) unter der Überschrift "Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" und in den Paragraphen 174-184 aufgeführt sind.
Sexuelle Verhaltensstörungen können einerseits auf das Ausleben entsprechender Paraphilien zurückgehen, d.h. paraphile Impulsmuster können einen ursächlichen Hintergrund für sexuelle Verhaltensstörungen darstellen. Andererseits existieren auch dissexuelle Verhaltensweisen, die nicht auf das Ausleben eines klar beschreibbaren paraphilen Impulsmusters zurückgehen, sondern als unabhängige sexuelle Verhaltensstörung gelten. Das bedeutet, dass im sexualdiagnostischen Prozess Störungen der sexuellen Präferenz und Störungen des sexuellen Verhaltens sauber differenziert werden müssen und nicht verwechselt oder gar gleichgesetzt werden dürfen. Besonders im Rahmen forensischer Begutachtungen zur Schuldfähigkeit ist diese Differenzierung von großer Bedeutung.



 
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6.Störungen der sexuellen Reproduktion

Bei diesen Störungen ist die Fortpflanzungsdimension von Sexualität in ihren unterschiedlichen Phasen wie Zeugung, Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt sowie Kindespflege/-erziehung psychisch und/oder psychophysiologisch beeinträchtigt und führt zu Symptombildern, unter denen die Betroffenen in erheblichem Maße leiden und/oder die ihre soziale Integration gefährden.
Ein Beispiel für diesen Indikationsbereich ist die negierte Schwangerschaft, die schlimmstenfalls sogar forensische Konsequenzen haben kann, wenn sie mit einer "Kindestötung unter der Geburt" endet. Sie stellt im Übrigen - geburtsmedizinischen Daten zufolge - kein seltenes Ereignis dar (in einer Einjahreserhebung an allen Berliner Kliniken wurde eine Häufigkeit von ca. einem Fall auf 475 Geburten ermittelt).
So wie Störungen der Sexualpräferenz bei Männern in den verschiedenen bekannten Varianten von Paraphilien und damit vor allem auf der Ebene der Lustdimension der Sexualität zum Ausdruck kommen können, scheint es als Störungen der sexuellen Fortpflanzungsdimension eine entsprechende Geschlechtswendigkeit bei Frauen zu geben, die sich auf der Ebene der sexuellen Reproduktion abspielt.


Quelle: Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin - Universitätsklinikum Charité
 
Literatur:
- Beier, K. M., Bosinski, H. A. G., Loewit, K.: Sexualmedizin, Grundlagen und Praxis. 2. Auflage Elsevier: München 2005
- Ahlers Ch. J., Schaefer G. A., Beier K. M. (2005): Das Spektrum der Sexualstörungen und ihre Klassifizierbarkeit in DSM-IV und ICD-10. Sexuologie 2005


 
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Datum der letzten Änderung : Jena, den: 09.10.2014