Heuristik

Heuristik (altgr. εὑρίσκω heurísko „ich finde“; von εὑρίσκειν heurískein ‚auffinden‘, ‚entdecken‘) bezeichnet die Kunst, mit begrenztem Wissen (unvollständigen Informationen) und wenig Zeit dennoch zu wahrscheinlichen Aussagen oder praktikablen Lösungen zu kommen. Es bezeichnet ein analytisches Vorgehen, bei dem mit begrenztem Wissen über ein System mit Hilfe mutmaßender Schlussfolgerungen Aussagen über das System getroffen werden. Die damit gefolgerten Aussagen weichen oftmals von der optimalen Lösung ab. Durch Vergleich mit einer optimalen Lösung kann die Güte der Heuristik bestimmt werden.

Bekannte Heuristiken sind zum Beispiel Versuch und Irrtum (trial and error), statistische Auswertung von Zufallsstichproben und das Ausschlussverfahren. Heuristische Verfahren basieren auf Erfahrungen; sie können auch auf „falschen“ Erfahrungen (z.B. verzerrte Wahrnehmung, Scheinkorrelation) basieren.

Begriffsunterscheidung

Der Unterschied der Heuristik zur Approximation liegt darin, dass eine Approximation eine quantifizierbare Güte (d.h. eine Aussage über den zu erwartenden Fehler) enthält.

Der Übergang zwischen Heuristik und Algorithmus ist fließend. Werner Stangl definiert ihn folgendermaßen: Ein Algorithmus bezeichnet eine systematische, logische Regel oder Vorgehensweise, die zur Lösung eines vorliegenden Problems führt. Im Gegensatz dazu steht dabei die schnellere, aber auch fehleranfälligere Heuristik.

Entwicklung der Heuristik

Pappos in der Antike

Erste Ansätze stammen aus dem 4. Jahrhundert vom griechischen Mathematiker Pappos von Alexandria. Pappos entwickelte folgende Methode:

  1. Betrachte das Problem als gelöst;
  2. suche den Lösungsweg durch Rückwärtsschreiten (Analyse; engl. working backwards>);
  3. beweise durch Vorwärtsschreiten (Synthese; engl. working forwards), dass dieser Weg zur Lösung führt.

Algorithmische Traditionslinie

Al-Chwarizmi

Al-Chwarizmi auf einer Briefmarke der Sowjetunion 1983

Al-Chwarizmi, der um 830 lebte, beschrieb algorithmische Methoden, wie sie bereits in Persien entwickelt worden waren. Im Mittelalter wurde das Werk ins Lateinische übersetzt (algoritmi de numero Indorum). So entstand aus dem Namen al Khovarezmi der pseudogriechische Terminus algorithmos.

Raimundus Lullus und Athanasius Kircher

Ramon Lull-Ars magna, Fig. 1

Raimundus Lullus (1235–1313), ein katalanischer Philosoph und Theologe mit arabischen Sprachkenntnissen, konstruierte eine mechanisch-kombinatorische Anordnung beweglicher Scheiben, die es ermöglichen sollte, alle möglichen Urteile und Wahrheiten zu gewinnen. Der hier in Ansatz gebrachte Lösungsstammbaum mit drei Entscheidungsstufen von jeweils neun Wahlmöglichkeiten eröffnet naturgemäß nur eine endliche Anzahl von Kombinationen. Die ars combinatoria des Lullus ist auf 93 = 729 Wahlmöglichkeiten begrenzt. (Siehe Abb.: Ramon Lull-Ars Magna, Fig.1). Eine direkte Fortsetzung fanden die Ideen Lullus’ durch den deutschen Jesuiten Athanasius Kircher in seiner Schrift Ars magna sciendi sive combinatoria (1669), um mithilfe der Kombinatorik aus einem System von Grundbegriffen alle erdenklichen und gültigen Schlussweisen und Wahrheiten auf mechanischem Wege abzuleiten. Die Kombination der gesamten Buchstaben des Alphabets mit Zahlenpermutationen ergibt andere Möglichkeiten als die nur neun symbolischen Buchstaben des Lullus: B, C, D, E, F, G, H, I, K = Bonitas, Magnitudo, Duratio, Potentia, Cognitio, Voluntas, Virtus, Veritas, Gloria. Aus der Kombination dieser principa absoluta und der principa relativa (Differenzia, Concordantia, Contrarietas, Principium, Medium, Finis, Majoritas, Aqualitas, Minoritas) sollten alle Formen des Seienden nach damaliger Auffassung Lull erfasst werden können. Daher findet man bei Kircher die Permutationsreihe aus Zehn mit der Zahl 3.628.800 beim Buchstaben K.

In der Literatur beschäftigte sich Stéphane Mallarmé (1842–1898), ein Kritiker und Poet des 19. Jahrhunderts, dessen Gedichte als Hauptwerke des Symbolismus gelten, mit der Kombinatorik von Wörtern. Sein fragmentarisch gebliebenes Text-Kunstwerk „Livre“, an dem er über 30 Jahre arbeitete, sollte sich für den Leser, durch die vielfältigen Kombinationsweisen des experimentell erweiterten Buches, unterschiedliche Lektüren und Lesarten bieten. Aber auch diese Methode endet in einer endlichen Anzahl von Möglichkeiten. Lesenswert in diesem Zusammenhang ist der Aufsatz Einladung zu einem Poesie-Automaten von Hans Magnus Enzensberger.

Lord Francis Bacon

Lord Francis Bacon (1561–1626) forderte in seinem Werk Novum Organon eine Weiterentwicklung der Heuristik. Er beschreibt darin die Methode der Induktion als den wahren Weg, den bisher noch niemand versucht habe. Letzteres stimmt nicht: Schon Aristoteles hat die induktive Methode sehr wohl genutzt; diesem folgten Naturphilosophen in Alexandria, arabische Denker und Humanisten.

Gottfried Wilhelm Leibniz

Gottfried Wilhelm Leibniz postulierte 1666 in Analogie zu Lullus die ars combinatoria, durch die man alle Erkenntnisse auf algorithmische Weise gewinnen kann. Im Gegensatz zu Lullus und in Anlehnung an René Descartes sind alle Begriffe auf ihren elementaren Kern zu reduzieren; dann könne man – durch ihre Kombination – alle möglichen Begriffszusammensetzungen erhalten. Aufgrund der Unzulänglichkeiten der Sprache muss zuvor eine Übersetzung in eine Kunstsprache, die Characteristica universalis, eine Weiterentwicklung der Mathesis universalis, erfolgen. Selbiges – das Übersetzen in eine künstliche universelle Plansprache, hatte Athanasius Kircher bereits 1663 in der Polygraphia nova gefordert und eine solche auch geschaffen.

Beispiel:

Im Gegensatz zu Descartes’ geschlossener Konzeption wurde Leibniz’ Auseinandersetzung mit der Heuristik nur fragmentarisch überliefert. Er unterschied zwischen der ars iudicandi, der Kunst, die Wahrheit von Aussagen zu beurteilen, und der ars inveniendi, der reinen Entdeckungskunst. 1673 stellte Gottfried Wilhelm Leibniz eine von ihm entwickelte Staffelwalzen-Maschine der Royal Society in London vor.

Fritz Zwicky

Als Weiterentwicklung der algorithmischen Traditionslinie erdachte Fritz Zwicky (1898–1974), ein schweizerisch-amerikanischer Physiker und Astronom, neben seinen astronomischen Tätigkeiten eine Methodik, aus Ideen konkrete Produkte zu entwickelnMorphologischer Kasten.

Heuristische Traditionslinie oder Klassische Heuristik

René Descartes

René Descartes (1596–1650) entwickelte 1637 mit seinem Discours de la méthode eine frühe Methodologie, die sich mehrfach auf das Vermögen der Intuition stützt. Mit ihrer Hilfe, so Descartes, erfasst der Mensch augenblicklich die Wahrheit einfachster Aussagen wie „Ein Dreieck hat drei Seiten“. Die Methode selbst besteht im Wesentlichen darin, komplexe Probleme derart zu zerlegen, dass ihre einzelnen Elemente qua Intuition als wahr erkannt werden können.

Joachim Jungius

Joachim Jungius (1587–1657) hat wahrscheinlich erstmals den Begriff Heuristik verwandt und sah in der heuristischen Erkenntnis die höchste Stufe der Erkenntnis, da sie ungelöste Probleme und neue Verfahren zum Gegenstand habe.

Friedrich Schleiermacher

Friedrich Schleiermacher

Friedrich Schleiermacher (1768–1834) postulierte erstmals die Heuristik als eigenständige Wissenschaft neben der Logik. An Stelle der abstrakten Zielsetzung sollte eine konkrete Denkpraxis treten. Schleiermacher definierte Heuristik als bewusstes, kunstmäßiges geistiges Arbeiten zum Finden neuer Erkenntnisse und Erkenntniszusammenhänge. Nach Schleiermacher zerfällt der Erkenntnisprozess bei der Heuristik in zwei Etappen:

  1. Konzentration auf den Problemsachverhalt.
  2. Bezugnahme auf den allgemeinen Zusammenhang.

Entscheidend sei hierbei die bewusste Durchführung des Verfahrens, da sich unbewusste und Zufallslösungen einer empirischen Überprüfung entziehen.

Bernard Bolzano

Bernard Bolzano (1781–1848) setzte auf die Systematisierung der Methoden, um in der jeweilig gegebenen Erkenntnissituation faktisch die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten für die logische Inangriffnahme vorgegebener Problemstellungen herauszuarbeiten und zu begründen. Willkürliches Denken, dessen Lösungsfindung niemals vollständig von logischen Gesetzen bestimmt ist, soll durch systematisch geordnete Zusammenstellung und klare Darlegung in der Wissenschaftspraxis angewendeter Methoden gelenkt werden. Die von Bolzano beschriebene Methodenproblematik stellt die umfassendste und geschlossenste Darstellung von heuristischen Methoden in der älteren Literatur dar.

Leonhard Euler

Der Mathematiker Leonhard Euler (1707–1783) schuf unter anderem die Grundlagen für die effiziente Lösung des Problems des Handlungsreisenden (TSP), MST-Heuristik, Christofides-Heuristik, k-Opt-Heuristik.

George Pólya

George Pólya um 1973

Viele bekannte Aussagen zur Heuristik in der Mathematik machte insbesondere der ungarische Mathematiker und Schriftsteller George Pólya. In seiner Reihe Vom Lösen mathematischer Probleme behandelt er intensiv Problemlösungsstrategien mittels heuristischer Methoden.

Moderne Ansätze

Ab 1964 wurde in der DDR u.a. durch Johannes Müller die Entwicklung und Anwendung eines Methodensystems, der Systematischen Heuristik betrieben, um die geistige Arbeit in den Bereichen Forschung und Entwicklung zu verbessern. Die russische Variante der Systematischen Heuristik nennt sich TRIZ.

Qualitative Heuristik ist eine von Gerhard Kleining entworfene sozialwissenschaftliche und psychologische Methodologie, die die „Entwicklung und Anwendung von Entdeckungsverfahren in regelgeleiteter Form“ zum Gegenstand hat.

Die Entwicklung der Lochkartentechnik von etwa 1900 bis etwa 1960 (s.u.) sowie der EDV seit den 1950er Jahren trug maßgeblich dazu bei, dass sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen intensiv mit dem Thema Heuristik beschäftig(t)en. Zum Beispiel versuchten Wirtschaftswissenschaftler, Techniken weiterzuentwickeln, mit denen man auf der Basis von Unternehmensdaten besser planen kann. Für dieses Forschungsgebiet bürgerte sich der Begriff Operations Research (OR) ein. Ziel von OR ist die Entwicklung und der Einsatz quantitativer Modelle und Methoden zur Entscheidungsunterstützung (Entscheidungsunterstützungssystem). OR ist ein Querschnittsgebiet zwischen Angewandter Mathematik, Wirtschaftswissenschaften und Informatik.

Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten Militärs verschiedener Länder die Möglichkeiten quantitativer Planung erkannt, die die Lochkartentechnik bot:

Anwendungsgebiete

Mathematik

Im mathematischen Sinne wird der Begriff Heuristik für zwei verschiedene Verfahrensarten zur Lösung mathematischer Probleme verwendet.

Auf der einen Seite werden besonders einfache, aber mitunter nur mit hohem Zeitaufwand zur Lösung führende Verfahren heuristisch genannt. Ein Beispiel hierfür ist das gezielte Raten von Nullstellen einer Polynomfunktion, indem die ganzzahligen Teiler des Koeffizienten vom Polynom kleinsten Grades der Funktion ausprobiert werden.

Auf der anderen Seite sind speziell in der Optimierung Eröffnungsverfahren heuristische Verfahren, jene Methoden also, die innerhalb kurzer Zeit und ohne großen Aufwand eine zulässige Lösung liefern. Diese sogenannte Basislösung kann durch mehrfaches Anwenden der Heuristik (in mehreren Iterationen) präzisiert werden. Dennoch ist die gefundene Lösung meist nicht die Optimallösung. Jedoch ist das Finden einer Optimallösung gerade bei komplexen Problemen nicht immer praktikabel oder effektiv. Ein Beispiel dafür ist das Matrixminimumverfahren zur Ermittlung einer Basislösung des Transportproblems oder der Savings-Algorithmus.

Informatik

In der Informatik kommen, ähnlich wie in der Mathematik, heuristische Methoden zum Einsatz, um mit geringem Rechenaufwand und kurzer Laufzeit zulässige Lösungen für ein bestimmtes Problem zu erhalten. Klassische Algorithmen versuchen, einerseits die optimale Rechenzeit und andererseits die optimale Lösung zu garantieren. Heuristische Verfahren dienen bei der Lösungsfindung der Laufzeitoptimierung. Suchen in großen Bäumen (Verzweigungsrate und Tiefe) werden erst durch Heuristiken möglich. So kann die Breitensuche bei einem Baum mit Tiefe 15 und Verzweigungsrate 3 sehr lange dauern. Mit einer heuristischen Suche kann diese Suche viel schneller abgearbeitet werden. Es gibt diverse heuristische Algorithmen, z.B. in der informierten Suche. Dazu wird versucht, mithilfe von Schätzungen, „Faustregeln“, intuitiv-intelligentem Raten oder unter zusätzlichen Hilfsannahmen eine gute Lösung zu erzeugen, ohne optimale Eigenschaften garantieren zu müssen. Bekannte heuristische Algorithmen sind etwa A*-Suche, Simulierte Abkühlung und Evolutionäre Algorithmen in der Optimierung. Auch Fuzzy-Regeln, die in der Fuzzylogik eine wichtige Rolle spielen, können als heuristische Regeln bezeichnet werden. Ein grundsätzliches Verfahren, das nicht an ein spezielles Problem gebunden ist, wird in diesem Zusammenhang als Metaheuristik bezeichnet.

Eine Heuristik in der Informatik ist eine Bewertung, welche durch eine Berechnung ermittelt wird. Diese Berechnung basiert auf Schätzen, Beobachten, Vermuten oder Raten. Heuristiken dienen der Problemlösung, z.B. bei der Suche wird eine Heuristik verwendet, um einen „guten“ Weg oder eine „gute“ Lösung zu finden. Die Bewertung ist nur so gut wie die „Schätzung“. Heuristiken kommen immer dann zum Einsatz, wenn eine exakte Berechnung der optimalen Lösung unmöglich ist (z.B. non-polynominales Problem, zu wenige Informationen, nicht realisierbar) oder derartig aufwendig, dass es sich nicht lohnt (z.B. alle Flugzeuge testen, um bestes Flugzeug zu finden).

Bei Virenscannern bezeichnet Heuristik die Suche nach Viren anhand von typischen Merkmalen.

Chemie

In der organischen Chemie können heuristische Methoden bei dem Verständnis und zur Klassifizierung bekannter Reaktionen helfen. Dies kann eine Hilfe sein, um neue Reaktionen und neue Substanzen vorhersagen zu können.

Siehe auch

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Basierend auf einem Artikel in: Wikipedia.de
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 30.07. 2022