4. Parteien in der Philosophie und philosophische Wirrköpfe | Inhalt | Zusatz zu Abschnitt 1

5. Ernst Haeckel und Ernst Mach

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Betrachten wir nun, in welchem Verhältnis der Machismus als philosophische Strömung zur Naturwissenschaft steht. Der ganze Machismus kämpft von Anfang bis zu Ende gegen die „Metaphysik" der Naturwissenschaft, wobei er unter dieser Bezeichnung den naturwissenschaftlichen Materialismus versteht, d.h. die spontane, nicht erkannte, ungeformte, philosophisch-unbewußte Überzeugung der überwiegenden Mehrzahl der Naturforscher von der durch unser Bewußtsein widergespiegelten objektiven Realität der Außenwelt. Und diese Tatsache verschweigen unsere Machisten heuchlerisch, indem sie den unlöslichen Zusammenhang des spontanen Materialismus der Naturforscher mit dem philosophischen Materialismus als Richtung, die schon längst bekannt ist und von Marx und Engels hundertfach bekräftigt wurde, vertuschen oder verwirren.

Nehmen wir Avenarius. Schon in seinem ersten, 1876 erschienenen Werk „Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes" bekämpft er die Metaphysik der Naturwissenschaft*, d. h. den naturwissenschaftlichen Materialismus, und zwar bekämpft er ihn, wie er 1891 selbst gestand (ohne jedoch seine Ansichten „korrigiert" zu haben!), vom Standpunkt des erkenntnistheoretischen Idealismus.

Nehmen wir Mach. Von 1872, oder gar noch früher, bis zum Jahre 1906 kämpft er unentwegt gegen die Metaphysik der Naturwissenschaft, wobei er allerdings gewissenhaft genug ist, zu gestehen, daß mit ihm zwar „eine ganze Anzahl Philosophen" (darunter Vertreter der immanenten Philosophie), aber nur „sehr vereinzelte Naturforscher" gehen. („Analyse der Empfindungen", S. 9 [S. X].) Im Jahre 1906 gesteht Mach ebenso gewissenhaft, daß „die meisten Naturforscher den Materialismus pflegen" („Erkenntnis und Irrtum", 2. Aufl., S. 4).

Nehmen wir Petzoldt. Im Jahre 1900 verkündet er: „Die Naturwissenschaften selbst sind noch ganz und gar mit Metaphysik durchsetzt." „Ihre Erfahrung muß erst gereinigt werden." („Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung", Bd. I, S. 343.) Wir wissen, daß Avenarius und Petzoldt die Erfahrung von jeder Anerkennung der uns in der Emp-


* §§ 79, 114 u.a.

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findung gegebenen objektiven Realität „reinigen". Im Jahre 1904 erklärt Petzoldt: „Die mechanistische Weltanschauung des modernen Naturforschers ist im wesentlichen nicht besser als die der alten Inder." „Ob die Welt von einem fabelhaften Elefanten oder von einer ebenso fabelhaften Schar von - erkenntnistheoretisch reell gedachten, also nicht [bloß bildlich] verwendeten - Molekülen und Atomen getragen wird, ist gleichgültig." (Bd. II, S. 176.)

Nehmen wir Willy, den einzigen Machisten, der anständig genug ist, sich der Verwandtschaft mit den Immanenzphilosophen zu schämen. Auch er erklärte im Jahre 1905: „... Auch die Naturwissenschaften sind schließlich in mancher Hinsicht eine Autorität, von der wir uns frei machen müssen." („Gegen die Schulweisheit", S. 158.)

Das alles ist doch purer Obskurantismus, abgefeimteste Reaktion. Die Atome, Moleküle, Elektronen usw. für eine annähernd richtige Widerspiegelung der objektiv redien 'Bewegung der 'Materie in unserem Kopf halten, das soll das gleiche sein, wie an einen Elefanten glauben, der die Welt trägt! Es ist begreiflich, daß sich die Immanenzphilosophen mit beiden Jiänden an einen solchen Obskuranten im Narrengewand eines Modepositivisten klammerten. Es gibt keinen einzigen Immanenzphilosophen, der nicht wutschnaubend über die „Metaphysik" der Naturwissenschaft, über den „Materialismus" der Naturforscher herfiele gerade des­halb, weil die Naturforscher die objektive Realität der Materie (und ihrer Teilchen), der Zeit, des Raumes, der Gesetzmäßigkeit der Natur usw. usf. anerkennen. Lange vor den neuen Entdeckungen in der Physik, die den „physikalischen Idealismus" hervorgebracht haben, kämpfte Leclair, gestützt auf Mach, gegen den „materialistischen [Grundzug] der modernen Naturwissenschaft" (Titel des Paragraphen 6 in „Der Realismus usw.", 1879), zog Schubert-Soldern gegen die Metaphysik der Naturwissenschaft (Titel des II. Kapitels in „Grundlagen einer Erkenntnistheorie", 1884) zu Felde, suchte Rehmke den naturwissenschaftlichen „Materialismus", diese „Metaphysik der Gasse", niederzukämpfen („Philosophie und Kantianismus", 1882, S. 17) usw. usw.

Und die Immanenzphilosophen zogen ganz mit Recht aus dieser mad)istisdien Idee von der „Metaphysik" des naturwissenschaftlichen Materialismus direkte und offene fideistische Schlüsse. Wenn uns die Naturwissenschaft in ihren Theorien nicht die objektive Realität, sondern

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nur Metaphern, Symbole, Formen der menschlichen Erfahrung usw. zeichnet, so ist die Menschheit ganz unbestreitbar berechtigt, sich für ein anderes Gebiet nicht weniger „reale Begriffe", wie Gott usf., zu schaffen.

Die Philosophie des Naturforschers Mach verhält sich zur Naturwissenschaft wie der Kuß des Christen Judas zu Christus. Genauso verrät Mach die Naturwissenschaft an den Fideismus, indem er dem Wesen der Sache nach auf die Seite des philosophischen Idealismus übergeht. Machs Verleugnung des naturwissenschaftlichen Materialismus ist in jeder Beziehung eine reaktionäre Erscheinung: wir haben das anschaulich genug gesehen, als wir vom Kampf der „physikalischen Idealisten" gegen die Mehrzahl der Naturforscher sprachen, die auf dem Standpunkt der alten Philosophie verharren. Wir werden das noch deutlicher sehen, wenn wir den berühmten Naturforscher Ernst Haeckel mit dem (unter dem reaktionären Kleinbürgertum) berühmten Philosophen Ernst Mach vergleichen.

Der Sturm, den E. Haeckels „Welträtsel" in allen zivilisierten Ländern hervorgerufen haben, zeigte einerseits besonders plastisch die Parteilichkeit der Philosophie in der heutigen Gesellschaft, anderseits die wirkliche gesellschaftliche Bedeutung, die der Kampf des Materialismus gegen Idealismus und Agnostizismus hat. Die Hunderttausende von Exemplaren des Buches, das sofort in alle Sprachen übersetzt wurde und in besonders billigen Ausgaben Verbreitung fand, lieferten den schlagenden Beweis, daß dieses Buch „ins Volk gedrungen" ist, daß es Massen von Lesern gibt, die E. Haeckel mit einem Schlage auf seine Seite gebracht hat. Das populäre Buch wurde zu einer Waffe des Klassenkampfes. Professoren der Philosophie und der Theologie aus aller Herren Ländern begannen in tausenderlei Variationen Haeckel zu schmähen und suchten ihn zu vernichten. Der berühmte englische Physiker Lodge unternahm es, Gott gegen Haeckel zu verteidigen. Der russische Physiker Herr Chwolson begab sich nach Deutschland, um dort eine niederträchtige, stockreaktionäre Broschüre gegen Haeckel loszulassen und den ehrenwerten Herren Philistern zu versichern, daß nicht die gesamte Naturwissenschaft heute auf dem Standpunkt des „naiven Realismus" stehe.* Zahllos sind die Theologen, die gegen Haeckel zu Felde zogen. Es gibt keine wüste Beschimp-


* O. D. Chwolson, „Hegel, Haeckel, Kossuth und das zwölfte Gebot", 1906. Vgl.S.80.

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fung, die die offiziellen Philosophieprofessoren nicht gegen ihn geschleudert hätten.* Es ist ein spaßiger Anblick, wie bei diesen in toter Scholastik ausgetrockneten Mumien — vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben — die Augen zu glühen beginnen, wie ihre Wangen sich röten von den Ohrfeigen, die ihnen Ernst Haeckel verabreicht hat. Die Priester der reinen Wissenschaft und der scheinbar abstraktesten Theorie stöhnen geradezu vor Wut, und in all diesem Gebrüll der Erzreaktionäre in der Philosophie (des Idealisten Paulsen, des Immanenzphilosophen Rehmke, des Kantianers Adickes usw., und wie sie alle heißen mögen) ist ein Leitmotiv deutlich vernehmbar: gegen die „Metaphysik" der Naturwissenschaft, gegen den „Dogmatismus", gegen die „übertreibung des Wertes und der Bedeutung der Naturwissenschaft", gegen den „naturwissenschaftlichen Materialismus". Er ist Materialist, hussa! packt ihn, den Materialisten, er betrügt das Publikum, indem er sich nicht direkt als Materialist bezeichnet - das ist es ja gerade, was die ehrwürdigen Herren Professoren in Raserei versetzt.

Und besonders bezeichnend bei dieser ganzen Tragikomödie** ist der Umstand, daß Haeckel selbst den Materialismus verleugnet, diese Bezeichnung zurückweist. Mehr noch: nicht nur, daß er nicht jede Religion verwirft, er erfindet sogar eine eigene Religion (auch so etwas wie der „atheistische Glaube" Bulgakows oder der „religiöse Atheismus" Lunatscharskis), und er verteidigt prinzipiell ein Bündnis zwischen Religion und Wissenschaft! Worum handelt es sich also? Welches „verhängnisvolle Mißverständnis" hat die ganze Aufregung ausgelöst?

Es handelt sich darum, daß die philosophische Naivität E. Haeckels, das Fehlen bestimmter Parteiziele bei ihm, sein Wunsch, den herrschenden philiströsen Vorurteilen gegen den Materialismus Rechnung zu tragen,


* Die Broschüre von Henrich Sdimidt „Der Kampf um die ,'Welträtsel'" (Bonn 1900) gibt kein schlechtes Bild von dem Feldzug der Philosophie- und Theologieprofessoren gegen Haeckel. Diese Broschüre ist jedoch heute bereits stark überholt.

** Das tragische Moment wurde durch ein Attentat auf Haeckel im Frühling dieses Jahres (1908) hineingetragen. Nach einer Reihe anonymer Briefe, in denen Haeckel mit Ausdrücken wie „Hund", „Gottloser", „Affe" usw. tituliert wurde, hat irgendein echtdeutscher Mann in das Jenaer Arbeitszimmer Haeckels einen Stein von recht imponierender Größe geschleudert.

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persönlich bei ihm vorhandene versöhnliche Tendenzen und Vorschläge hinsichtlich der Religion - daß dies alles nur um so plastischer den allgemeinen Geist seiner Schrift, die Unausrottbarkeit des naturwissenschaftlichen Materialismus, seine Unvereinbarkeit mit der ganzen offiziellen Professorenphilosophie und -theologie hervortreten ließ. Haeckel persönlich möchte einen Bruch mit den Philistern vermeiden; doch das, was er mit so unerschütterlich naiver Überzeugung auseinandersetzt, verträgt sich absolut mit keiner Schattierung des herrschenden philosophischen Idealismus. Alle diese Schattierungen - von den gröbsten reaktionären Theorien eines Hartmann bis zu dem Positivismus Petzoldts, der sich für sehr modern, progressiv und fortschrittlich hält, oder bis zum Empiriokritizismus Machs - alle stimmen darin überein, daß der naturwissenschaftliche Materialismus „Metaphysik" ist, daß die Anerkennung der objektiven Realität der Theorien und Schlußfolgerungen der Natur­wissenschaft „allemaivsten Realismus" bedeutet usw. Und gerade für diese „traditionelle" Lehre der ganzen Professorenphilosophie und -theologie ist jede Seite von Haeckels Buch ein Schlag ins Gesicht. Ein Naturforscher, der unbedingt die beständigsten, wenn auch nicht fest umrissenen Meinungen, Stimmungen und Tendenzen der überwiegenden Mehrzahl der Naturforscher am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck bringt, hat auf einmal leicht und faßlich das aufgezeigt, was die Professorenphilosophie vor der Öffentlichkeit und vor sich selber zu verbergen suchte - nämlich, daß es einen Eckpfeiler gibt, der sich immer mehr verbreitert und festigt und an dem alle Bemühungen und krampfhaften Anstrengungen der tausendundein Schülchen des philosophischen Idealismus, Positivismus, Realismus, Empiriokritizismus und sonstigen Konfusionismus zerschellen. Dieser Eckpfeiler ist der naturwissensdiaftiidie Materialismus. Die Überzeugung der „naiven Realisten" (d. h. der ganzen Menschheit), daß unsere Empfindungen Abbilder der objektiv realen Außenwelt sind, ist die stets wachsende und stärker werdende Überzeugung der großen Masse der Naturforscher.

Verloren ist die Sache der Gründer neuer philosophischer Schülchen, der Erfinder neuer erkenntnistheoretischer „Ismen" - hoffnungslos und für immer verloren. Mögen sie sich mit ihren „originellen" Systemchen ab­zappeln, mögen sie sich bemühen, einige Verehrer mit dem interessanten Streit zu unterhalten, ob der empiriokritische Bobtschinski oder der empi-

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riomonistisdie Dobtschinski* zuerst „ei!" gesagt habe, mögen sie wie die „Immanenten" sogar eine umfangreiche „Fach"literatur schaffen - die Entwicklung der Naturwissenschaft schiebt trotz ihres Wankens und Schwankens, trotz aller Unbewußtheit des Materialismus der Naturforscher, trotz der gestrigen Begeisterung für den in Mode gekommenen „physiologischen Idealismus" oder der heutigen Begeisterung für den modischen „physikalischen Idealismus" alle Systemchen und alle Spitzfindigkeiten beiseite, indem sie immer und immer wieder die „Metaphysik" des naturwissenschaftlichen Materialismus in den Vordergrund rückt.

Hier eine Illustration des Gesagten an einem Beispiel aus Haeckel. In den „Lebenswundern" vergleicht der Verfasser die monistische und dualistische Erkenntnistheorie miteinander. Wir zitieren daraus die interessantesten Punkte der Gegenüberstellung:

Monistische Erkenntnistheorie:Dualtstiscbe Erkenntnistheorie:
3. Die Erkenntnis ist ein physio­logischer Vorgang, dessen anatomi­sches Organ das Gehirn ist.3. Die Erkenntnis ist kein physio­logischer Vorgang, sondern ein rein geistiger Prozeß.
4. Der Teil des menschlichen Gehirns, in welchem Erkenntnis ausschließlich zustande kommt, ist ein räumlich begrenztes Gebiet in der Großhirnrinde, das Phronema. 4. Der Teil des menschlichen Gehirns, der scheinbar als Organ der Erkenntnis füngiert, ist tatsächlich nur das Instrument, das den geisti­gen Prozeß zur Erscheinung bringt.
5. Das Phronema ist eine höchst vollkommene Dynamomaschine, deren einzelne Teile, die Phroneten, aus Millionen von Seelenzellen (Phronetalzellen) zusammengesetzt sind. Wie bei jedem anderen Organ des Körpers ist auch bei diesem Geistesorgan die Tätigkeit (der 5. Das Phronema als Organ der Vernunft ist nicht autonom tätig, sondern vermittelt durch seine ein­zelnen Teilorgane (Phroneten) und die dasselbe zusammensetzenden Zellen nur die Beziehungen zwischen dem immateriellen Geiste und der Außenwelt. Die menschliche

* Bobtschinski und Dobtschjnskj - Figuren aus Gogols „Revisor". Der Übers.

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„Geist") das Gesamtresultat der Funktionen der Zellen, die es zusammensetzen.*Vernunft ist von dem Verstande der höheren und dem Instinkte der niederen Tiere absolut verschieden.

Dieser typische Auszug aus dem Werk Haeckels zeigt, daß er sich auf eine Untersuchung der philosophischen Fragen gar nicht einläßt und es nicht versteht, die materialistische und die idealistische Erkenntnistheorie einander gegenüberzustellen. Er verspottet alle idealistischen oder vielmehr alle speziell philosophischen Spitzfindigkeiten vom Standpunkt der Naturwissenschaft und läßt nicht einmal den Gedanken zu, daß eine andere Erkenntnistheorie als der naturwissensdiaftlidie Materialismus möglich sei. Er verspottet die Philosophen vom Standpunkt des Materialisten, ohne zu merken, daß er auf dem Standpunkt des Materialisten steht!

Die ohnmächtige Wut der Philosophen gegen diesen allmächtigen Materialismus ist verständlich. Wir haben oben die Äußerungen des „echt russischen" Lopatin zitiert. Hier nun die Äußerung des Herrn Rudolf Willy, des führenden „Empiriokritikers" und unversöhnlichen Gegners des Idealismus (da gibt es nichts zu lachen!): „Der Monismus Haeckels ist ein sehr buntes Gemisch; er vereinigt gewisse naturwissenschaftliche Gesetze, wie das Gesetz der Erhaltung der Energie ..., mit gewissen scholastischen Substanz- und Ding-an-sich-Uberlieferungen zu einem chaotischen Durcheinander." („Gegen die Schulweisheit", S. 128.)

Was hat den ehrenwerten „neuesten Positivisten" so in Harnisch gebracht? Nun, wie sollte er nicht in Zorn geraten, wo er doch sofort merkte, daß alle großen Lehren seines Meisters Avenarius, zum Beispiel, daß das Gehirn nicht Organ des Denkens sei, daß die Empfindungen keine Abbilder der Außenwelt, daß die Materie („Substanz") oder das „Ding an sich" keine objektive Realität sei usw. - vom Standpunkt Haeckels pures idealistisches Kauderwelsch sind!? Haeckel hat das nicht gesagt, denn er befaßte sich nicht mit Philosophie und machte sich mit dem „Empiriokritizismus" als solchem nicht bekannt. Doch kann sich R. Willy der Einsicht nicht verschließen, daß hunderttausend Leser Haeckels ein hunderttausendfaches Spucken auf die Philosophie von Mach und Avenarius bedeu­en. Und R. Willy wischt sich beizeiten ab - nach Copatinsdher Art. Denn


* Ich benutze die französische Übersetzung: „Les merveilles de la vie", Paris, Schleicher. Tabl. I et XVI. (Im vorliegenden Band zitiert nach der 1904 in Stuttgart erschienenen deutschen Ausgabe. Der Übers.)

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in ihrem Kern ist die Argumentation des Herrn Lopatin und die des Herrn Willy gegen jeglichen Materialismus überhaupt und gegen den naturwissenschaftlichen Materialismus insbesondere ganz dieselbe. Für uns Marxisten ist der Unterschied zwischen Herrn Lopatin und den Herren Willy, Petzoldt, Mach und Co. nicht größer als der zwischen einem protestantischen und einem katholischen Theologen.

Der „Krieg" gegen Haeckel hat bewiesen, daß diese unsere Auffassung der objektiven Keälität, d. h. der Klassennatur der modernen Gesellschaft und ihren klassenmäßigen geistigen Tendenzen, entspricht.

Ein weiteres kleines Beispiel. Der Machist Kleinpeter hat das in Amerika verbreitete Werk von Karl Snyder „Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft" aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt (Leipzig 1905). Dieses Werk erläutert in klarer und populärer Form eine ganze Reihe der neuesten Entdeckungen sowohl in der Physik als auch auf anderen Gebieten der Naturwissenschaft. Und siehe, der Machist Kleinpeter sah sich veranlaßt, Snyder mit einem Vorwort zu versehen, in dem er Vorbehalte macht, wie etwa, daß Snyders Erkenntnistheorie „mangelhaft" sei (S. V). Warum das? Nun, darum, weil Snyder keinen Augenblick Zweifel darüber bestehen läßt, daß das Weltbild ein Bild dessen ist, wie sich die Materie bewegt und wie »die Materie denkt" (S. 228, l. c.). In seiner nächsten Arbeit „Die Weltmaschine" (London and New York 1907; Karl Snyder, „The Worid Machine") spielt Snyder darauf an, daß sein Buch dem Andenken Demokrits von Abdera gewidmet ist, der ungefähr 460-360 v. Chr. lebte, und schreibt: „Demokrit ist öfters der Ahnherr des Materialismus genannt worden. Es ist das eine Philosophenschule, die heute ein wenig aus der Mode gekommen ist; doch verdient es erwähnt zu werden, daß praktisch alle modernen Fortschritte unserer Ideen über die Welt auf seinen Begriffen sich aufbauten. Praktisch gesprochen (practi-cally speaking) sind materialistische Annahmen bei physikalischen Forschungen einfach unvermeidlich (unescapable)." (p. 140 [S. 136]*.)

„Wenn er will, kann er mit dem guten Bischof Berkeley träumen, daß alles ein Traum ist. So bequem dieses Kunststück eines idealisierten Idealismus sein mag, so gibt es doch unter uns einige wenige, die, wie auch immer sie über das Problem der Außenwelt denken, zweifeln, daß sie


* Im vorliegenden Band zitiert nach der deutschen Ausgabe Leipzig 1908. Der Übers.

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selbst existieren; und es bedarf keiner langen Verfolgung der Irrlichter des Ich und Nicht-Ich, um uns zu versichern, daß wir in dem unbewachten Moment, wo wir annehmen, daß wir selbst eine Persönlichkeit haben und ein Wesen sind, die ganze Reihe von Erscheinungen einlassen, die uns durch die sechs Eingangspforten der Sinne zuströmt. Die Nebularhypothese, der lichtvermittelnde Äther, die Atomtheorie und alles dergleichen können wohl passend ,Arbeitshypothesen' genannt werden, doch ist wohl daran zu erinnern, daß bei Abwesenheit eines Beweises vom Gegenteil sie mehr oder weniger auf der gleichen Grundlage beruhen wie die Hypothese, daß ein Wesen, das Du, nachsichtiger Leser, ,Du' nennst, diese Zeilen prüfend verfolgt." (p. 31/32 [S. 32/33].)

Man vergegenwärtige sich nur das bittere Los eines Machisten, wenn seine raffinierten Lieblingskonstruktionen, die naturwissenschaftliche Kategorien auf einfache Arbeitshypothesen zurückführen, von den Naturforschem beiderseits des Ozeans als purer Unsinn verhöhnt werden! Soll man sich da wundem, daß Rudolf Willy im Jabre 1 9 0 5 gegen Demokrit loszieht, als wäre dieser Feind noch am Leben, womit er ausgezeichnet die Parteilidikeit der Philosophie demonstriert und wieder und wieder seine wahre Stellung in diesem Parteikampf offenbart! „Gewiß", schreibt er, „hatte Demokrit kein Bewußtsein davon, daß die Atome und der leere Raum lediglich fiktive Begriffe sind, die [bloße Handlangerdienste] verrichten und nur aus Gnaden der Zweckmäßigkeit - solange sie sich als brauchbar erweisen - ihr Dasein fristen. So frei war Demokrit nicht; aber auch unsere modernen Naturforscher - von einigen Ausnahmen abgesehen - sind es nicht. Der Glaube des alten Demokrit ist auch der Glaube unserer Naturforscher." (l. c., S. 57.)

Grund genug zum Verzweifeln! Da hat man ganz „neuartig", „empiriokritisch" bewiesen, daß sowohl der Raum als auch die Atome „Arbeitshypothesen" sind, und nun machen sich die Naturwissenschaftler über diesen Berkeleyanismus lustig und folgen Haeckel! Wir sind keineswegs Idealisten, das ist Verleumdung, wir bemühen uns bloß (mit den Idealisten zusammen), die erkenntnistheoretische Linie des Demokrit zu widerlegen, wir bemühen uns bereits über 2000 Jahre - und alles umsonst! Da bleibt unserem Führer Ernst Mach nichts weiter übrig, als sein letztes Werk, das Resultat seines Lebens und seiner Philosophie - „Erkenntnis und Irrtum" - Wilhelm Schuppe zu widmen und im Text wehmütig zu

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bemerken, daß die meisten Naturforscher Materialisten sind, und daß „wir auch" Haedkel verehren... wegen der „Denkfreiheit" (S. 14).

Hierin zeigt er sich ganz, dieser Ideologe des reaktionären Kleinbürgertums, wie er dem Erzreaktionär W. Schuppe folgt und die Denkfreiheit eines Haeckel „ verehrt". So sind sie alle, diese humanen Philister in Europa mit ihren freiheitlichen Sympathien und ihrem geistigen (politischen wie ökonomischen) Eingenommensein für die Wilhelm Schuppe.* Unparteilichkeit in der Philosophie ist nichts anderes als schnöde maskier ter Lakaiendienst für den Idealismus und Fideismus.

Man vergleiche zum Schluß noch die Äußerung Franz Mehrings über Haeckel, die Äußerung eines Mannes, der nicht nur Marxist sein möchte, sondern es auch zu sein versteht. Gleich nach Erscheinen der „Welträtsel", schon Ende 1899, wies Mehring sofort darauf hin, daß „Haeckels Werk in seinen minder guten wie in seinen sehr guten Seiten außerordentlich geeignet ist, die in der Partei anscheinend etwas durcheinander geratenen Ansichten darüber zu klären, sowohl was sie am historischen Materialismus, als auch was sie am historischen Materialismus besitzt"**. Die Unulänglichkeit Haeckels bestehe darin, daß er keine Ahnung vom historischen Materialismus hat und sich so zu einer Reihe haarsträubender Absurditäten sowohl über Politik als auch über eine „monistische Religion" usw. usf. versteigt. „Haeckel ist Materialist und Monist, aber nicht historischer, sondern nur naturwissenschaftlicher Materialist." (Ebenda.)

„Wer einmal diese Unfähigkeit" (des naturwissenschaftlichen Materialismus, bei gesellschaftlichen Fragen mitzureden) „mit Händen greifen, wer sich mit der Erkenntnis durchdringen will, daß der naturwissenschaftliche Materialismus sich zum historischen Materialismus erweitern muß, wenn er wirklich eine unwiderstehlich aufräumende Waffe im großen Befreiungskampf der Menschheit sein will, der lese Haeckels Buch.

Aber er lese es nicht nur deshalb! Seine ungemein schwache Seite hängt vielmehr untrennbar mit seiner ungemein starken Seite zusammen, mit


* Plechanow trachtete in seinen Bemerkungen gegen die Machisten weniger danach, Mach zu widerlegen, als vielmehr der Fraktion der Bolschewik! Schaden zuzufügen. Für diese kleinliche und klägliche Ausnutzung grundlegender theoretischer Meinungsverschiedenheiten wurde er schon hinreichend bestraft durch zwei Schriften menschewistischer Machisten.127

** Fr. Mehring, „Die Welträtsel", „Neue Zeit", 1899/1900, 18, l, 418.

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der faßlichen, klaren, schließlich doch den ungleich größeren und wichtigeren Teil des Bandes füllenden Darstellung, die Haeckel von der Entwicklung der Naturwissenschaften in diesem" (dem 19.) „Jahrhundert oder mit anderem Worte von dem Siegeszug des naturwissensdiaftlichen Materialismus gibt."*


* Fr. Mehring, „Die Welträtsel", „Neue Zeit", 1899/1900, 18, l, 419.



Datum der letzten Änderung : Jena, den: 20.08.2013