3. Ist Bewegung ohne Materie denkbar? | Inhalt | 5. Die zwei Richtungen in der modernen Physik und der deutsche Idealismus

4. Die zwei Richtungen in der modernen Physik und der englische Spiritualismus

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Um konkret den philosophischen Kampf zu demonstrieren, der in der modernen Literatur darüber entbrannt ist, welche Schlußfolgerungen aus der neuen Physik zu ziehen sind, geben wir den unmittelbaren Teilnehmern der „Schlacht" das Wort, und zwar zunächst den Engländern. Der Physiker Arthur W. Rücker verteidigt die eine Richtung vom Standpunkt des Naturforschers; der Philosoph James Ward die andere vom Standpunkt der Erkenntnistheorie.

Auf dem Kongreß der englischen Naturforscher in Glasgow 1901 wählte der Präsident der physikalischen Sektion, A. W. Rücker, als Thema für seine Rede den Wert der physikalischen Theorie, die Zweifel,

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denen die Existenz der Atome und insbesondere des Äthers unterzogen wurde. Der Redner berief sich auf die Physiker Poincaré und Poynting (ein englischer Gesinnungsgenosse der Symbolisten oder Machisten), die diese Frage aufgeworfen hatten, auf den Philosophen Ward, auf das bekannte Buch von E. Haeckel und versuchte eine Darstellung seiner eigenen Ansichten zu geben.*

„Die Streitfrage dreht sich darum", sagte Rücker, „ob die Hypothesen, die den am meisten verbreiteten wissenschaftlichen Theorien zugrunde liegen, als genaue Beschreibungen der Struktur der uns umgebenden Welt oder nur als bequeme Fiktionen betrachtet werden sollen." (In der Terminologie unseres Streits mit Bogdanow, Juschkewitsch und Co. ausgedrückt: Sind sie eine Kopie der objektiven Realität, der sich bewegenden Materie, oder nichts als „Methodologie", „reines Symbol", „Formen der Organisation der Erfahrung" ?) Rücker gibt zu, daß sich praktisch möglicherweise zwischen beiden Theorien kein Unterschied ergeben wird: die Richtung eines Flusses könne wohl ebensogut derjenige bestimmen, der nur einen blauen Streifen auf der Karte oder auf einer graphischen Darstellung betrachtet, wie jener, der weiß, daß dieser Streifen einen wirklichen Fluß darstellt. Vom Standpunkt der bequemen Fiktion aus sei die Theorie eine „Erleichterung für das Gedächtnis", ein „Hineintragen von Ordnung" in unsere Beobachtungen, ihre Einordnung in ein gewisses künstliches System, eine „Regulierung unseres Wissens", seine Reduktion auf Gleichungen usw. Man könne sich zum Beispiel darauf beschränken, daß die Wärme eine Form der Bewegung oder der Energie sei, „wobei man auf diese Weise das lebendige Bild der sich bewegenden Atome durch eine farblose (colorless) Erklärung über die Wärmeenergie ersetzt, deren reale Natur wir nicht zu bestimmen suchen". Rücker erkennt durchaus die Möglichkeit großer wissenschaftlicher Erfolge auf diesem Wege an, doch er „wagt zu behaupten, daß man ein solches System der Taktik nicht als das letzte Wort der Wissenschaft im Kampf um die Wahrheit betrach­ten könne". Die Frage drängt sich auf: „Können wir von den Erscheinun-


* The British Association at Glasgow, 1901, Presidential Address by Prof. Arthur W. Rücker in „The Scientific American. Supplement", 1901, Nr. 1345 und 1346 (Die Britische Assoziation in Glasgow 1901, Rede des Präsidenten Prof. Arthur W. Rücker in: Der gebildete Amerikaner. Beilage, 1901, Nr. 1345 und 1346. Die.Red.).

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gen, die die Materie darbietet, auf die Struktur der Materie selbst schließen?" „Haben wir Grund zu glauben, daß der Grundriß, den die Wissenschaft bereits gegeben hat, gewissermaßen eine Kopie und nicht ein bloßes Diagramm der Wahrheit ist?"

Bei der Untersuchung der Frage nach der Struktur der Materie nimmt Rücker als Beispiel die Luft. Er spricht davon, daß die Luft aus Gasen besteht und daß die Wissenschaft „jedes elementare Gas in ein Gemisch von Atomen und Äther zerlegt". Hier - fährt er fort - ruft man uns zu: „Halt!" Moleküle und Atome könne man nicht sehen; sie können als „bloße Begriffe" (mere conceptions) brauchbar sein, „dürfen aber nicht als Realitäten betrachtet werden". Rücker erledigt diesen Einwand durch den Hinweis auf einen der zahllosen Fälle in der Entwicklung der Wissenschaft : Die Ringe des Saturn erscheinen im Fernrohr als kompakte Massen. Die Mathematiker erbrachten durch Berechnungen den Beweis, daß dies unmöglich sei, und die Spektralanalyse bestätigte die Schlüsse, die auf Grund der Berechnungen gezogen wurden. Ein anderer Einwand: Den Atomen und dem Äther werden Eigenschaften zugeschrieben, die uns unsere Sinne an der gewöhnlichen Materie nicht anzeigen. Rücker erledigt auch diesen Einwand, indem er Beispiele anführt wie die Diffusion der Gase und der Flüssigkeiten usw. Eine Reihe von Tatsachen, Beobachtungen und Experimenten beweise, daß die Materie aus einzelnen Partikeln oder Körnern besteht. Die Frage, ob sich diese Partikeln, die Atome, von dem sie umschließenden „Urmedium" oder „Grundmedium" (Äther) unterscheiden oder ob sie nur in einem besonderen Zustand befindliche Teile dieses Mediums sind, bleibe vorläufig offen, ohne daß dadurch die Theorie der Existenz der Atome selbst berührt werde. Es liege kein Grund vor, a priori, entgegen den Ergebnissen der Erfahrung, die Existenz „quasi-materieller Substanzen" zu leugnen, die von der gewöhnlichen Materie (den Atomen und dem Äther) verschieden sind. Fehler in Einzelheiten seien hier unvermeidlich, doch lasse die Gesamtheit der wissenschaftlichen Tatsachen keinen Zweifel an der Existenz der Atome und Moleküle aufkommen.

Rücker verweist dann auf die neuen Angaben über den Aufbau der Atome aus mit negativer Elektrizität geladenen Korpuskeln (Körperchen, Elektronen) und konstatiert, daß die verschiedenen Experimente und Berechnungen über die Größe der Moleküle gleiche Ergebnisse liefern: die „erste Annäherung" ergibt einen Durchmesser von etwa 100 Millimikron

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(Millionstel eines Millimeters). Wir übergehen verschiedene spezielle Bemerkungen Rückers sowie seine Kritik des Neovitalismus106 und zitieren seine Schlußfolgerungen:

„Diejenigen, die die Bedeutung der bisher für den Fortschritt der wissenschaftlichen Theorie maßgebenden Ideen herabsetzen, nehmen allzuoft an, daß es keine andere Wahl gäbe als zwischen den zwei entgegengesetzten Behauptungen: daß Atome und Äther bloße Fiktionen der wissenschaftlichen Einbildung seien oder daß eine mechanische Theorie der Atome und des Äthers - die jetzt noch unvollendet ist, aber falls sie vollendet werden könnte - uns eine vollständige und adäquate Vorstellung von den Realitäten liefern würde. Meiner Ansicht nach gibt es einen Mittelweg." Ein Mensch in einem dunklen Zimmer könne die Gegenstände nur sehr undeutlich unterscheiden, doch wenn er sich nicht an den Möbeln stößt und nicht gegen den Spiegel rennt, als wäre es eine Tür, so bedeute das, daß er irgend etwas richtig sieht. Wir brauchen daher weder auf den Anspruch zu verzichten, unter die Oberfläche der Natur vorgedrungen zu sein, noch haben wir schon den Schleier des Geheimnisses von der uns umgebenden Welt gelüftet. „Zugegeben, daß wir uns bisher ein geschlossenes Bild weder von der Natur der Atome noch von dem Äther, in dem diese existieren, gemacht haben; ich habe aber versucht zu zeigen, daß trotz des annähernden (tentative, wörtlich: tastenden) Charakters einiger unserer Theorien, trotz vieler einzelner Schwierigkeiten die Theorie der Atome ... in ihren Hauptgrundlagen richtig ist; daß die Atome nicht nur Hilfsbegriffe (helps) für die Mathematiker (puzzled mathematicians) sind, sondern physische Realitäten."

So schloß Rücker seine Rede. Der Leser sieht, daß der Redner sich nicht mit Erkenntnistheorie befaßte, aber dem Wesen der Sache nach, zweifellos im Namen der großen Masse der Naturforscher, einen spontan­materialistischen Standpunkt vertrat. Die Quintessenz seiner Position: Die Theorie der Physik ist ein (immer genauer werdendes) Abbild der objektiven Realität. Die Welt ist sich bewegende Materie, die wir immer tiefer erkennen. Die Ungenauigkeiten der Philosophie Rückers entspringen der vermeidbaren Verteidigung der „mechanischen" (warum nicht elektromagnetischen?) Theorie der Bewegungen des Äthers und dem Nichtverstehen des Verhältnisses zwischen relativer und absoluter Wahrheit. Was diesem Physiker fehlt, ist lediglich das Wissen um den diatek-

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tischen Materialismus (abgesehen natürlich von den sehr wichtigen irdischen Erwägungen, die die englischen Professoren veranlassen, sich „Agnostiker" zu nennen).

Nun wollen wir sehen, wie der Spiritualist James Ward diese Philosophie kritisierte: „... Der Naturalismus ist keine Wissenschaft", schrieb er, „und die mechanische Theorie der Natur, die ihm als Grundlage dient, ist ebensowenig eine Wissenschaft... Doch obwohl Naturalismus und Naturwissenschaft, die mechanische Welttheorie und die Mechanik als Wissenschaft logisch verschiedene Dinge sind, so sind sie doch auf den ersten Blick einander sehr ähnlich und geschichtlich eng verknüpft. Es besteht keine Gefahr, daß die Naturwissenschaft mit einer Philosophie idealistischer oder spiritualistischer Richtung vermengt würde, denn alle solche Philosophien schließen notwendig eine Kritik der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen ein, die die Wissenschaft unbewußt macht.. ."* Richtig! Die Naturwissenschaft nimmt unbewußt an, daß ihre Lehre die objektive Realität widerspiegelt, und nur eine solche Philosophie ist mit der Naturwissenschaft vereinbar. „... Anders verhält es sich mit dem Naturalismus, der in bezug auf die Erkenntnistheorie ebenso unschuldig ist wie die Wissenschaft selbst. In der Tat ist der Naturalismus, gleichwie der Materialismus, einfach Physik, die als Metaphysik behandelt wird ... Der Naturalismus ist zweifellos weniger dogmatisch als der Materialismus, denn er macht agnostische Vorbehalte betreffs der Natur der letzten Realität; doch beharrt er ganz entschieden auf der Priorität der materiellen Seite dieses ,Unerkennbaren'..."

Der Materialist behandelt die Physik als Metaphysik. Ein bekanntes Argument! Als Metaphysik wird die Anerkennung der objektiven Realität außerhalb des Menschen bezeichnet: die Spiritualisten stimmen mit den Kantianern und Humeisten in diesen Vorwürfen gegenüber dem Materialismus überein. Das ist auch begreiflich: ohne die objektive Realität der jedermann bekannten Dinge, Körper, Gegenstände beseitigt zu haben, ist es unmöglich, den Weg für die „realen Begriffe" im Sinne Rehmkes frei zu machen!...

„... Wenn die ihrem Wesen nach philosophische Frage auftaucht, wie die Erfahrung als Ganzes am besten zu systematisieren sei" (ein Plagiat an Bogdanow, Herr Ward!), „dann behauptet der Naturalist, wir müßten


* James Ward, „Naturalism and Agnosticism", vol. I, 1906, p. 303.

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mit der physischen Seite anfangen. Nur diese Tatsachen seien exakt, bestimmt und straff miteinander verbunden; jeder Gedanke, der jemals das menschliche Herz bewegte, ... lasse sich, so sagt man uns, auf eine ganz exakte Umgruppierung von Materie und Bewegung zurückführen ... Daß Behauptungen von solcher philosophischen Bedeutung und Tragweite gesetzmäßige Folgerungen aus der physikalischen Wissenschaft" (d. h. der Naturwissenschaft) „seien, das getrauen sich die modernen Physiker nicht direkt zu behaupten. Aber viele unter ihnen sind der Auffassung, daß diejenigen, die versuchen, die geheime Metaphysik aufzudecken, den physikalischen Realismus zu enthüllen, auf dem die mechanische Welttheorie beruht, die Bedeutung der Wissenschaft untergraben ..." Auch Rücker habe Wards Philosophie so aufgefaßt... „In Wirklichkeit aber fußt meine Kritik" (dieser „Metaphysik", die auch allen Machisten verhaßt ist) „durchaus auf den Ergebnissen einer Schule von Physikern, wenn man sie so nennen darf, einer an Zahl und Einfluß ständig wachsenden Schule, die diesen fast mittelalterlichen Realismus verwirft... Dieser Realismus begegnete so lange keinen Einwänden, daß die Auflehnung gegen ihn einer Proklamierung wissenschaftlicher Anarchie gleichgesetzt wird. Indessen wäre es wirklich extravagant, etwa solche Männer wie Kirchhoff oder Poincaré - ich nenne nur zwei von vielen großen Namen — zu verdächtigen, daß sie ,die Bedeutung der Wissenschaft untergraben' wollen ... Um sie von der alten Schule zu trennen, die wir mit Recht als physikalische Realisten bezeichnen können, könnten wir die neue Schule physikalische Symbolisten nennen. Dieser Ausdruck ist nicht sehr glücklich, doch unterstreicht er wenigstens einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Schulen, der uns augenblicklich speziell interessiert. Die Streitfrage ist sehr einfach. Beide Schulen gehen selbstverständlich von denselben sinnlichen (perceptual) Erfahrungen aus; beide wenden abstrakte Begriffssysteme an, die im Detail verschieden, dem Wesen nach aber gleich sind; beide greifen zu denselben Methoden der Verifikation. Nur nimmt die eine an, daß sie sich immer mehr der letzten Realität nähert und immer mehr Scheindinge hinter sich läßt. Die andere meint, daß sie nur ein verallgemeinertes, beschreibendes Schema, das für die intellektuellen Operationen nützlich ist, für die komplizierten konkreten Tatsachen substituiere (is substituting)... Weder von der einen noch von der anderen Seite wird der Wert der Physik als eines systematischen Wissens

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über" (hervorgehoben von Ward) „die Dinge berührt; die Möglichkeit der Weiterentwicklung der Physik und ihrer praktischen Anwendung besteht gleichermaßen in dem einen wie in dem anderen Falle. Aber der philosophische (speculative) Unterschied zwischen den beiden Schulen ist sehr groß, und in dieser Beziehung gewinnt die Frage, welche von ihnen im Recht ist, Wichtigkeit..."

Die Fragestellung des offenherzigen und konsequenten Spiritualisten ist bemerkenswert richtig und klar. Der Unterschied der beiden Schulen in der modernen Physik ist tatsächlich nur ein philosophischer, nur ein erkenntnistheoretischer. Der grundlegende Unterschied besteht tatsächlich nur darin, daß die eine die „letzte" (es müßte heißen: objektive) Realität anerkennt, die durch unsere Theorie widergespiegelt wird, während die andere dies verneint und die Theorie nur als eine Systematisierung der Erfahrung, als System von Empiriosymbolen usw. usf. betrachtet. Die neue Physik, die neue Arten von Materie und neue Formen ihrer Bewegung aufgedeckt hat, hat anläßlich der Zerstörung der alten physikalischen Begriffe die alten philosophischen Fragen aufgerollt. Und wenn die Leute der „mittleren" philosophischen Richtungen („Positivisten", Humeisten, Machisten) es nicht verstehen, die Streitfrage klar und deutlich zu stellen, so hat der offene Idealist Ward alle Hüllen fallen lassen.

„... Rücker widmete seine Inauguraladresse der Verteidigung des physikalischen Realismus gegen die symbolistische Interpretation, die in letzter Zeit von den Professoren Poincaré und Poynting und von mir vertreten wurde." (p. 305/306; an anderen Stellen seines Buches ergänzt Ward diese Liste durch die Namen Duhem, Pearson und Mach; siehe I. vol./p. 161, 63, 57, 75, 83 u. a.)

„... Rücker spricht beständig von »Gedankenbildern' und erklärt dabei immer, daß Atome und Äther etwas seien, was mehr ist als Gedankenbilder. Eine solche Betrachtungsweise läuft in Wirklichkeit auf folgendes hinaus: in einem bestimmten Fall kann ich mir kein anderes Bild machen, und daher muß die Realität ihm ähnlich sein ... Professor Rücker gibt die abstrakte Möglichkeit eines anderen Gedankenbildes zu ... Er gibt sogar den ,annähernden' (tentative) Charakter einiger unserer Theorien und viele »einzelne Schwierigkeiten' zu. Letzten Endes verteidigt er nur eine Arbeitshypothese (a working hypothesis) und dabei noch eine solche, die in der letzten Hälfte des Jahrhunderts bedeutend an Prestige verloren

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hat. Wenn aber die atomistische und andere Theorien über die Struktur der Materie nur Arbeitshypothesen sind, und zwar streng auf physikalische Erscheinungen beschränkte Hypothesen, so gibt es keine Rechtfertigung für eine Theorie, die behauptet, daß der Mechanismus allem zu Grunde liege und daß er die Tatsachen des Lebens und des Geistes auf Epiphänomena zurückführe, d. h. sie gewissermaßen um einen Grad mehr phänomenal, um einen Grad weniger real als Materie und Bewegung mache. Das ist die mechanische Welttheorie, und wenn Professor Rücker diese Theorie nicht gerade aufrechterhalten will, so haben wir mit ihm über nichts zu streiten." (p. 314/315.)

Es ist natürlich totaler Unsinn, die Sache so hinzustellen, als ob der Materialismus dem Bewußtsein „weniger" Realität zubillige oder unbedingt ein „mechanisches", nicht aber ein elektromagnetisches oder ein anderes noch ungleich komplizierteres Weltbild als das der sich bewegenden Materie behaupte. Aber mit wahrem Taschenspielergeschick, viel besser als unsere Machisten (d. h. die konfusen Idealisten), fischt der offene und unverhohlene Idealist Ward die schwachen Stellen des „spontanen" naturwissenschaftlichen Materialismus heraus, so z. B. die Unfähigkeit, das Verhältnis zwischen relativer und absoluter Wahrheit klarzumachen. Ward schlägt Purzelbäume und erklärt, die Wahrheit könne, da sie relativ, annähernd sei, da sie das Wesen der Dinge nur „taste", nicht die Widerspiegelung der Realität sein! Außerordentlich richtig dagegen stellt der Spiritualist die Frage der Atome u. a. als einer „Arbeitshypothese". Mehr zu verlangen, als die naturwissenschaftlichen Begriffe für „Arbeitshypothesen" zu erklären, fallt dem modernen, kultivierten Fideismus (Ward leitet diesen offen aus seinem Spiritualismus ab) gar nicht ein. Wir überlassen euch die Wissenschaft, meine Herren Naturforscher, überlaßt ihr uns die Erkenntnistheorie, die Philosophie - das ist die Bedingung für das Zusammenleben von Theologen und Professoren in den „fortgeschrittenen" kapitalistischen Ländern.

Was die anderen Punkte der Erkenntnistheorie Wards betrifft, die er mit der „neuen" Physik in Zusammenhang bringt, so gehört dazu noch sein entschlossener Kampf gegen die Materie. Was ist Materie? Was ist Energie? fragt Ward, wobei er die Fülle der einander widersprechenden Hypothesen verspottet. Der Äther oder die Ätherarten? Irgendein neues „vollkommenes Fluidum" das man willkürlich mit neuen und unwahr-

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scheinlichen Eigenschaften ausstattet! Wards Schlußfolgerung lautet: „Wir finden nichts Bestimmtes außer Bewegung. Wärme ist eine Art der Bewegung, Elastizität ist eine Art der Bewegung, Licht und Magnetismus sind Arten der Bewegung. Sogar die Masse selbst erweist sich letzten Endes, wie angenommen wird, als eine Art der Bewegung von etwas, das weder fest noch nüssig noch gasförmig ist, das selbst weder Körper noch ein Aggregat von Körpern, das nicht phänomenal ist und nicht noumenal sein muß, ein wahres apeiron" (Terminus aus der griechischen Philosophie = das Endlose, Unbegrenzte*), „auf welches wir unsere eigenen Charakteristiken anwenden können." (I, 140.)

Der Spiritualist bleibt sich treu, wenn er die Bewegung von der Materie trennt. Die Bewegung der Körper verwandelt sich in der Natur in eine Bewegung dessen, was kein Körper mit konstanter Masse ist, in eine Bewegung dessen, was eine unbekannte Ladung einer unbekannten Elektrizität in einem unbekannten Äther ist - diese Dialektik der materiellen Verwandlungen, die im Laboratorium und in der Fabrik ausgeführt werden, dient in den Augen des Idealisten (wie auch in den Augen des breiten Publikums, wie auch in den Augen der Machisten) nicht als Bestätigung der materialistischen Dialektik, sondern als Argument gegen den Materia­lismus: „... Die mechanische Theorie als vorgebliche (professed) Erklärung der Welt erhält einen tödlichen Schlag durch den Fortschritt der mechanischen Physik selbst..." (143.) Die Welt ist sich bewegende Materie, antworten wir, und die Bewegungsgesetze dieser Materie finden ihre Widerspiegelung für die langsamen Bewegungen in der Mechanik, für die schnellen Bewegungen in der elektromagnetischen Theorie ... „Das ausgedehnte, feste, unzerstörbare Atom war immer die Stütze der materialistischen Weltauffassung. Doch zum Unglück für diese Auffassungen befriedigte das ausgedehnte Atom nicht die Anforderungen (was not equal to the demands), die das wachsende Wissen ihm gestellt hat..." (144.) Die Zerstörbarkeit des Atoms, seine Unerschöpflichkeit, die Veränderlichkeit aller Formen der Materie und ihrer Bewegung bildeten immer die Stütze des dialektischen Materialismus. Alle Grenzen in der Natur sind bedingt, relativ, beweglich, drücken das Näherkommen unseres Verstandes an die Erkenntnis der Materie aus, was aber nicht im


* In der ersten Ausgabe von Lenin übersetzt: das der Erfahrung nicht Zugängliche, Unerkennbare. Die Red.

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mindesten beweist, daß die Natur, die Materie selbst nur ein Symbol, ein konventionelles Zeichen, d. h. ein Produkt unseres Verstandes sei. Das Elektron verhält sich zum Atom wie ein Punkt in diesem Buch zum Volumen eines Gebäudes, dessen Länge 30, dessen Breite 15 und dessen Höhe 7,5 Faden ist (Lodge), es bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von etwa 270 000 Kilometer in der Sekunde, seine Masse verändert sich mit seiner Geschwindigkeit, es macht 500 Trillionen Umdrehungen in der Sekunde - das alles ist viel komplizierter als die alte Mechanik, aber das alles ist die Bewegung der Materie in Raum und Zeit. Der menschliche Geist hat viel Wundersames in der Natur entdeckt, er wird noch mehr entdecken und dadurch seine Macht über die Natur erweitern, aber das bedeutet nicht, daß die Natur eine Schöpfung unseres Geistes oder eines abstrakten Geistes, d. h. des Wardschen Gottes, der Bogdanowschen „Substitution" usw. ist.

„... Streng (rigorously) durchgeführt als Theorie der realen Welt, führt uns dieses Ideal" (das Ideal des „Mechanismus") „zum Nihilismus: alle Veränderungen sind Bewegungen, denn Bewegungen sind die einzigen Veränderungen, die wir erkennen können, und so muß das, was sich bewegt, wiederum Bewegung sein, um von uns erkannt zu werden..." (166.) „Wie ich zu zeigen versuchte, erweist sich gerade der Fortschritt der Physik als das wirksamste Mittel gegen den Ignorantenglauben an Materie und Bewegung, gegen deren Anerkennung als letzte (inmost) Substanz und nicht als das abstrakteste Symbol der Daseinssumme ... Durch den nackten Medianismus werden wir niemals zu Gott gelangen .. /' (180.)

Nun, das schaut schon ganz so aus wie in den „Beiträgen ,zur' Philosophie des Marxismus"! Sie sollten doch einmal versuchen, sich dorthin zu wenden, Herr Ward, an Lunatscharski und Juschkewitsch, an Basarow und Bogdanow: die sind zwar etwas „verschämter" als Sie, doch predigen sie ganz dasselbe.



Datum der letzten Änderung : Jena, den: 20.03.2013