5. Raum und Zeit | Inhalt | KAPITEL IV

6. Freiheit und Notwendigkeit

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Auf S. 140/141 der „Beiträge" zitiert A. Lunatscharski Engels' Betrachtungen im „Anti-Dühring" über diese Frage und schließt sich vollständig der „erstaunlich prägnanten und treffenden" Charakteristik der Sache an, die Engels auf der entsprechenden „wundervollen Seite"* dieses Werkes gegeben hat.

Des Wundervollen ist hier allerdings viel. Und am „wundervollsten" ist, daß sowohl A. Lunatscharski als auch die vielen anderen Machisten, die Marxisten sein möchten, die erkenntnistheoretische Bedeutung der Engelsschen Betrachtungen über Freiheit und Notwendigkeit „übersehen" haben. Gelesen haben sie es und abgeschrieben auch, aber den Zusammenhang haben sie nicht verstanden.

Engels schreibt: „Hegel war der erste, der das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit richtig darstellte. Für ihn ist die Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit. ,Blind ist die Notwendigkeit nur, insofern dieselbe nicht begriffen wird.' Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den


* Lunatscharski schreibt: „.. .die wundervolle Seite der religiösen Ökonomik. Ich sage das, auch auf die Gefahr hin, bei dem nicht religiösen Leser ein Lächeln hervorzurufen." So gut Ihre Absichten auch sein mögen, Genosse Lunatscharski, Ihr Liebäugeln mit der Religion ruft nicht ein Lächeln, sondern Ekel hervor.70

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Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebnen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen. Es gilt dies mit Beziehung sowohl auf die Gesetze der äußern Natur, wie auf diejenigen, welche das körperliche und geistige Dasein des Menschen selbst regeln - zwei Klassen von Gesetzen, die wir höchstens in der Vorstellung, nicht aber in der Wirklichkeit voneinander trennen können. Freiheit des Willens heißt daher nichts andres als die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können. Je freier also das Urteil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer Notwendigkeit wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein ... Freiheit besteht also in der, auf Erkenntnis der [Naturnotwendigkeiten] gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur." (S. 112/113 der 5. dtsch. Aufl.)71

Analysieren wir, auf welche erkenntnistheoretischen Annahmen sich diese ganze Betrachtung gründet.

Erstens erkennt Engels gleich zu Anfang seiner Betrachtungen die Naturgesetze, die Gesetze der äußeren Natur, die Naturnotwendigkeit an - d. h. alles das, was Mach, Avenarius, Petzoldt und Co. für „Metaphysik" erklären. Hätte Lunatscharski über Engels' „wundervolle" Betrachtungen richtig nachdenken wollen, so hätte er den grundlegenden Unterschied zwischen der materialistischen Erkenntnistheorie und dem Agnostizismus und Idealismus sehen müssen, die die Gesetzmäßigkeit der Natur leugnen oder sie als eine bloß „logische" usw. usf. bezeichnen.

Zweitens gibt sich Engels nicht damit ab, „Definitionen" der Freiheit und Notwendigkeit auszuklügeln, jene scholastischen Definitionen, für die sich die reaktionären Professoren (wie Avenarius) und ihre Schüler (wie Bogdanow) am meisten interessieren. Engels nimmt die Einsicht und den Willen des Menschen einerseits, die Naturnotwendigkeit anderseits und sagt einfach statt jeder Bestimmung, statt jeder Definition, daß die Naturnotwendigkeit das Primäre, der Wille und das Bewußtsein des Menschen das Sekundäre sind. Die letzteren müssen sich unvermeidlich und notwendig der ersteren anpassen; für Engels ist das derart selbstverständlich, daß er auf die Erläuterung seiner Ansicht keine weiteren Worte verschwendet. Nur die russischen Machisten brachten es fertig, sich über die allgemeine Bestimmung des Materialismus durch Engels zu beschweren. (die Natur ist das Primäre, das Bewußtsein das Sekundäre: man erinnere

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sich an Bogdanows „Bedenken" hierbei!) und gleichzeitig eine Einzelanwendung dieser allgemeinen und grundlegenden Bestimmung durch Engels „wundervoll" und „erstaunlich treffend" zu finden!

Drittens gibt es für Engels keinen Zweifel an der Existenz der „blinden Notwendigkeit". Er erkennt die Existenz einer von dem Menschen nicht erkannten Notwendigkeit an. Das geht sonnenklar aus der oben zitierten Stelle hervor, übrigens, wie kann der Mensch, vom Standpunkt der Machisten, Kenntnis haben von der Existenz dessen, was er nidht kennt? Kenntnis haben von der Existenz der nicht erkannten Notwendigkeit? Ist das denn nicht „Mystik", nicht „Metaphysik", nicht ein Anerkennen von „Fetischen" und „Idolen", ist das nicht das „Kantische unerkennbare Ding an sich" ? Hätten sich die Machisten hineingedacht, dann hätte ihnen die völlige Identität der Engelsschen Betrachtungen über die Erkennbarkeit der objektiven Natur der Dinge und über die Verwandlung des „Dinges an sich" in ein „Ding für uns" einerseits und seiner Betrachtungen über die blinde, nicht erkannte Notwendigkeit anderseits nicht entgehen können. Die Entwicklung des Bewußtseins bei jedem einzelnen menschlichen Individuum und die Entwicklung des kollektiven Wissens der gesamten Menschheit zeigen uns auf Schritt und Tritt die Verwandlung des nicht erkannten „Dinges an sich" in ein erkanntes „Ding für uns", die Verwandlung der blinden, nicht erkannten Notwendigkeit, der „Notwendigkeit an sich", in eine erkannte „Notwendigkeit für uns". Gnoseologisch besteht zwischen der einen und der anderen Verwandlung absolut kein Unterschied, denn der grundlegende Standpunkt ist hier wie dort derselbe, nämlich der materialistische: die Anerkennung der objektiven Realität der Außenwelt und der Gesetze der äußeren Natur, wobei sowohl diese Welt als auch diese Gesetze für den Menschen sehr wohl erkennbar sind, aber nie restlos von ihm erkannt werden können. Wir kennen die Naturnotwendigkeit in den Witterungserscheinungen nicht, und insofern sind wir unvermeidlich Sklaven des Wetters. Aber wenngleich wir diese Notwendigkeit nicht kennen, so wissen wir doch, daß sie existiert. Woher wissen wir das? Aus derselben Quelle, aus der wir wissen, daß die Dinge außerhalb unseres Bewußtseins und unabhängig von ihm existieren, nämlich aus der Entwicklung unserer Kenntnisse, die jedem Menschen millionenfach zeigt, daß auf Nichtwissen Wissen folgt, wenn der Gegenstand auf unsere Sinnesorgane einwirkt, und daß um-

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gekehrt Wissen zu Nichtwissen wird, wenn die Möglichkeit solcher Einwirkung aufgehoben wird.

Viertens wendet Engels in der zitierten Betrachtung offenkundig die „saltovitale" Methode in der Philosophie an, d. h., er macht den Sprung von der Theorie zur Praxis. Keiner jener gelehrten (und albernen) Philosophieprofessoren, denen unsere Machisten folgen, wird sich je erlauben, derartige für einen Vertreter der „reinen Wissenschaft" schmachvolle Sprünge zu machen. Für sie sind die Erkenntnistheorie, in der man möglichst verzwickte „Definitionen" austüfteln muß, und die Praxis zwei ganz verschiedene Dinge. Bei Engels bricht die ganze lebendige menschliche Praxis in die Erkenntnistheorie selbst ein, wobei sie das objektive Kriterium der Wahrheit gibt: solange wir das Naturgesetz nicht kennen, das neben unserem Bewußtsein, außerhalb unseres Bewußtseins existiert und wirkt, macht es uns zu Sklaven der „blinden Notwendigkeit". Sobald wir aber dieses Gesetz, das (wie Marx tausendmal wiederholte) unabhängig von unserem Willen und unserem Bewußtsein wirkt, erkannt haben, sind wir die Herren der Natur. Die Herrschaft über die Natur, die sich in der Praxis der Menschheit äußert, ist das Resultat der objektiv richtigen Widerspiegelung der Erscheinungen und Vorgänge der Natur im Kopfe des Menschen, ist der Beweis dafür, daß diese Widerspiegelung (in den Grenzen dessen, was uns die Praxis zeigt) objektive, absolute, ewige Wahrheit ist.

Zu welchem Ergebnis sind wir nun gekommen? Jeder Schritt in Engels' Betrachtung, buchstäblich fast jeder Satz, jede These beruht gänzlich und ausschließlich auf der Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus, auf Annahmen, die zu dem ganzen machistischen Unsinn von den Körpern als Empfindungskomplexen, von „Elementen", vom „Zusammenfallen der sinnlichen Vorstellung mit der außer uns existierenden Wirklichkeit" usw. usf. in schärfstem Gegensatz stehen. Nicht im geringsten darüber beunruhigt, verlassen die Machisten den Materialismus, wiederholen (à la Berman) abgegriffene Trivialitäten über die Dialektik und akzeptieren gleichzeitig mit Freuden eine der Anwendungen des dialektischen Materialismus! Sie haben ihre Philosophie aus der eklektischen Bettelsuppe geschöpft und fahren fort, dem Leser mit diesem Zeug aufzuwarten. Sie nehmen ein Stückchen Agnostizismus und ein Tröpfchen Idealismus von Mach, vermengen das mit einem Stückchen dialektischen

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Materialismus von Marx und stammeln, dieses Sammelsurium sei eine Weiterentwicklung des Marxismus. Sie glauben, es sei reiner Zufall, wenn Mach, Avenarius, Petzoldt und alle ihre sonstigen Autoritäten nicht die geringste Ahnung davon haben, wie diese Frage (Freiheit und Notwendigkeit) von Hegel und Marx gelöst wurde: nun, ganz einfach, sie haben eben irgendeine Seite in irgendeinem Büchlein nicht gelesen, doch könne gar keine Rede davon sein, daß diese „Autoritäten", was den wirklichen Fortschritt der Philosophie im 19. Jahrhundert anbetrifft, völlige Ignoranten, philosophische Obskuranten waren und geblieben sind.

Hier die Betrachtung eines solchen Obskuranten, des Ordinarissimus der Philosophie an der Wiener Universität Ernst Mach:

„Die Richtigkeit der Position des ,Determinismus' oder ,Indeterminismus' läßt sich nicht beweisen. Nur eine vollendete oder nachweisbar unmögliche Wissenschaft könnte hier entscheiden. Es handelt sich hier eben um Voraussetzungen, die [man] an die Betrachtung der Dinge [heranbringt], je nachdem man den bisherigen Erfolgen oder Mißerfolgen der Forschung ein größeres [subjektives Gewicht] beimißt. Während der Forschung aber ist jeder Denker notwendig theoretisch Determinist." („Erkenntnis und Irrtum", 2. dtsch. Aufl., S. 282/283.)

Ist das nicht Obskurantismus, wenn die reine Theorie sorgfältig von der Praxis getrennt wird? Wenn der Determinismus auf das Gebiet der „Forschung" beschränkt wird, während auf dem Gebiet der Moral, des gesellschaftlichen Handelns und auf allen sonstigen Gebieten, außer dem der „Forschung", die Frage der „subjektiven" Wertung überlassen wird? In meinem Arbeitszimmer, sagt der gelehrte Pedant, bin ich Determinist; daß aber ein Philosoph sich um eine einheitliche, Theorie und Praxis umfassende, auf dem Determinismus aufgebaute Weltanschauung zu kümmern hat, davon ist keine Rede. Mach redet deshalb Banalitäten, weil ihm die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit theoretisch vollständig unklar ist.

„... Jede neue Entdeckung deckt Mängel unserer Einsicht auf, enthüllt einen bisher unbeachteten Rest von Abhängigkeiten..." (283.) Ausgezeichnet! Ist also dieser „Rest" eben das „Ding an sich", das durch unsere Erkenntnis immer gründlicher widergespiegelt wird? Nichts dergleichen: „... So muß also auch derjenige, welcher in der Theorie einen extremen Determinismus vertritt, praktisch doch Indeterminist bleiben..."

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(283.) Ein gütlicher Ausgleich also*: die Theorie den Professoren, die, Praxis den Theologen! Oder: in der Theorie Objektivismus (d.h. „verschämter" Materialismus), in der Praxis die „subjektive Methode in der Soziologie"72. Daß die russischen Ideologen des Kleinbürgertums, die Volkstümler von Lessewitsch bis Tschernow für eine so fade Philosophie Sympathie hegen, ist nicht verwunderlich. Daß sich Leute, die Marxisten sein möchten, durch solchen Unsinn einfangen ließen und die gar zu absurden Folgerungen Machs schamhaft verdecken, das ist schon äußerst traurig.

Aber in der Frage des Willens begnügt sich Mach nicht mit Konfusion und halbschlächtigem Agnostizismus, sondern geht viel weiter... „Unser Hunger", lesen wir in der „Mechanik", „ist nicht so wesentlich verschieden von dem Streben der Schwefelsäure nach Zink, und unser Wille nicht so sehr verschieden von dem Druck des Steines auf die Unterlage." „Wir werden uns dann" (d. h. bei einer solchen Auffassung) „der Natur wieder näher fühlen, ohne daß wir nötig haben, uns selbst in eine uns nicht mehr verständliche Staubwolke von Molekülen oder die Natur in ein System von Spukgestalten aufzulösen." (S. 434 der franz. Übersetzung [S. 493 bis 494].) Also, wir brauchen keinen Materialismus („Staubwolke von Molekülen" oder Elektronen, d. h. Anerkennung der objektiven Realität der materiellen Welt), wir brauchen auch keinen solchen Idealismus, der die Welt für das „Anderssein" des Geistes hält; möglich aber ist ein Idealismus, der die Welt als Willen anerkennt! Wir sind nicht nur über den Materialismus, sondern auch über den Idealismus „irgendeines" Hegel erhaben, haben aber nichts dagegen, mit einem Idealismus im Geiste Schopenhauers zu kokettieren! Unsere Machisten, die die Miene der gekränkten Unschuld aufsetzen, sobald die Verwandtschaft Machs mit dem philosophischen Idealismus erwähnt wird, zogen es auch hier vor, diesen heiklen Punkt einfach mit Stillschweigen zu übergehen. Indessen dürfte in der philosophischen Literatur schwerlich eine Darstellung der Anschauungen Machs anzutreffen sein, in der nicht seine Neigung zur [Willensmetaphysik], d. h. zum voluntaristischen Idealismus hervorgehoben


* Mach in der „Mechanik": „Die religiösen Ansichten bleiben jedes Menschen eigenste Privatsache, solange er mit denselben nicht aufdringlich wird und sie nicht auf Dinge überträgt, die vor ein anderes Forum gehören." (S. 434 der franz. Übersetzung [S, 494].)

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würde. Darauf hat J. Baumann hingewiesen.* Und der Machist H. Kleinpeter hat in seiner Erwiderung darauf diesen Punkt nicht bestritten und hat erklärt, daß allerdings „Kant und Berkeley Mach näherstehen als der in der Naturwissenschaft herrschende metaphysische Empirismus" (d. h. der naturwüchsige Materialismus; ebenda, Bd. 6, S. 87). Darauf verweist auch E. Becher, der erklärt: Wenn Mach an einigen Stellen die Willensmetaphysik anerkennt und sie an anderen Stellen wieder verleugnet, so beweise dies nur die Willkür seiner Terminologie; in Wirklichkeit sei außer Zweifel, daß Mach der Willensmetaphysik nahestehe.** Daß diese Willensmetaphysik (d. h. der Idealismus) der „Phänomenologie" (d. h. dem Agnostizismus) beigemischt ist, bestätigt auch Lucka.*** Ebenso weist W. Wundta darauf hin. Daß Mach ein Phänomenalist ist, der „einer Willensmetaphysik nicht abgeneigt" ist, wird auch im Handbuch der Geschichte der neueren Philosophie von Ueberweg-Heinzeb konstatiert.

Mit einem Wort, Machs Eklektizismus und seine Neigung zum Idealismus ist aller Welt klar, ausgenommen höchstens die russischen Machisten.


* „Archiv für systematische Philosophie", 1898, II, Bd. 4, S. 63, Aufsatz über Machs philosophische Ansichten.
** Erich Becher, „The Philosophical Views of Ernst Mach" [Die philosophischen Ansichten Ernst Machs] in „The Philosophical Review", vol. XIV, 5, 1905, pp. 536,546,547,548.
*** E. Lucka, „Das Erkenntnisproblem und Machs »Analyse der Empfindungen' " in „Kantstudien", Bd. VIII, 1903, S. 400.
a „Systematische Philosophie", Leipzig 1907, S. 131.
b „Grundriß der Geschichte der Philosophie", Bd. 4, 9. Auflage, Berlin 1903, S.250.



Datum der letzten Änderung : Jena, den: 04.04.2013