Inhalt | Kapitel 1

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STATT EINER EINLEITUNG

WIE MANCHE "MARXISTEN" IM JAHRE 1908
UND MANCHE IDEALISTEN IM JAHRE 1710
DEN MATERIALISMUS WIDERLEGTEN

Wer einigermaßen mit der philosophischen Literatur vertraut ist, muß wissen, daß es heutzutage kaum einen Professor der Philosophie (wie auch der Theologie) geben dürfte, der sich nicht direkt oder indirekt mit der Widerlegung des Materialismus befaßt. Hunderte und Tausende Male wurde verkündet, daß der Materialismus widerlegt sei, und bis zum heutigen Tag fährt man fort, ihn zum hundertundersten oder zum tausendundersten Male zu widerlegen. Unsere Revisionisten beschäftigen sich alle mit der Widerlegung des Materialismus, wobei sie sich den Anschein geben, als widerlegten sie eigentlich nur den Materialisten Plechanow, nicht aber den Materialisten Engels, nicht den Materialisten Feuerbach, nicht die materialistischen Ansichten von J. Dietzgen, und ferner, als widerlegten sie den Materialismus vom Standpunkt des "neuesten" und "modernen" Positivismus(17), der Naturwissenschaft usw. Ohne mich auf Zitate zu berufen, die jeder, der es wünscht, hundertfach in den obengenannten Büchern finden kann, werde ich auf die Argumente hinweisen, mit denen Basarow, Bogdanow, Juschkewitsch, Walentinow, Tschernow * und andere Machisten gegen den Materialismus zu Felde ziehen. Ich werde den Ausdruck Machisten als kürzere und einfachere Bezeichnung, die überdies in der russischen Literatur schon eingebürgert ist, überall als gleichbedeutend mit dem Ausdruck "Empiriokritiker" anwenden. Daß Ernst Mach gegenwärtig der populärste Vertreter des Empiriokritizismus


* W. Tschernow, "Philosophische und soziologische Studien", Moskau 1907. Der Autor ist ein ebenso begeisterter Anhänger von Avenarius und Gegner des dialektischen Materialismus wie Basarow und Co.

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ist, ist in der philosophischen Literatur allgemein anerkannt.* Bogdanows und JusAkewitschs Abweichungen vom "reinen" Machismus sind, wie ich später zeigen werde, von ganz nebensächlicher Bedeutung.

Die Materialisten, so sagt man uns, erkennen etwas Undenkbares und Unerkennbares an - "Dinge an sich", eine Materie "außerhalb der Erfahrung", außerhalb unserer Erkenntnis. Sie verfallen in wahren Mystizismus, indem sie etwas Jenseitiges, außerhalb der Grenzen der "Erfahrung" und der Erkenntnis Liegendes annehmen. Indem die Materialisten erklären, daß die Materie durch ihre Einwirkung auf unsere Sinnesorgane die Empfindungen hervorbringe, nehmen sie ein "Unbekanntes", ein Nichts zur Grundlage, denn sie selbst erklären ja unsere Sinne für die einzige Quelle der Erkenntnis. Die Materialisten verfallen in "Kantianismus" (so Plechanow dadurch, daß er die Existenz von "Dingen an sich", d. h. von Dingen außerhalb unseres Bewußtseins einräume), sie "verdoppeln" die Welt, predigen den "Dualismus", denn hinter den Erscheinungen haben sie noch das Ding an sich, hinter den unmittelbaren Gegebenheiten der Sinne noch etwas anderes, irgendeinen Fetisch, ein "Idol", ein Absolutum, eine Quelle der "Metaphysik", ein Gegenstück zur Religion (die "heilige Materie", wie Basarow sagt).

Das sind die Argumente der Machisten gegen den Materialismus, wie sie von den obengenannten Schriftstellern in den verschiedensten Varia- tionen immer wieder vorgebracht werden.

Um festzustellen, ob diese Argumente neu sind und ob sie wirklich nur gegen einen einzelnen "in Kantianismus verfallenen" russischen Materialisten gerichtet sind, wollen wir ausführliche Zitate aus dem Werk eines alten Idealisten, George Berkeleys, anführen. Dieser historische Nachweis ist in der Einleitung zu unseren Bemerkungen um so notwendiger, als wir uns späterhin auf Berkeley und seine Richtung in der Philosophie noch mehrmals werden berufen müssen, da die Machisten sowohl das Verhältnis von Mach zu Berkeley als auch das Wesen der philosophischen Linie von Berkeley falsch darstellen.

Das Werk des Bischofs George Berkeley, das 1710 unter dem Titel "Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis" ** er-


* Siehe z. B. Dr. Richard Hönigswald, "über die Lehre Humes von der Realität der Außendinge", Berlin 1904, S. 26.
** Qeorcfe 'Berkeley, "Treatise concerning the Principles of Human Know- weiter...

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schienen ist, beginnt mit der folgenden Betrachtung: "Jedem, der einen Blick auf die Qegenstände der menschlichen Erkenntnis wirft, leuchtet ein, daß dieselben teils den Sinnen gegenwärtig eingeprägte Ideen (ideas) sind, teils Ideen, welche durch ein Aufmerken auf das, was die Seele leidet und tut, gewonnen werden, teils endlich Ideen, welche mittels des Gedächtnisses und der Einbildungskraft... gebildet werden. Durch den Gesichtssinn erhalte ich die Licht- und Farbenideen in ihren verschiedenen Abstufungen und Modifikationen, durch den Tastsinn perzipiere ich z. B. Härte und Weichheit, Hitze und Kälte, Bewegung und Widerstand... Der Geruchssinn verschafft mir Gerüche, der Geschmackssinn Geschmacksempfindungen, der Sinn des Gehörs führt dem Geiste Schallempfindungen zu ... Da nun beobachtet wird, daß einige von diesen Empfindungen einander begleiten, so geschieht es, daß sie mit einem Namen bezeichnet und folglich als ein Ding betrachtet werden. Ist z. B. beobachtet worden, daß eine gewisse Farbe, Geschmacksempfindung, Geruchsempfindung, Gestalt und Festigkeit vereint auftreten (to go together), so werden sie für ein bestimmtes Ding gehalten, welches durch den Namen Apfel bezeichnet wird. Andere Gruppen von Ideen (collections of ideas) bilden einen Stein, einen Baum, ein Buch und ähnliche sinnliche Dinge .. ." (§ l.)

Soweit der Inhalt des ersten Paragraphen von Berkeleys Werk. Halten wir fest, daß er "Härte, Weichheit, Hitze, Kälte, Farben, Geschmacksempfindungen, Gerüche" usw. zur Grundlage seiner Philosophie macht. Für Berkeley sind die Dinge "Gruppen von Ideen", wobei er unter diesem letzten Wort eben die obengenannten, sagen wir, Eigenschaften oder Empfindungen versteht, nicht aber abstrakte Gedanken.

Berkeley sagt weiter, daß außer diesen "Ideen oder Erkenntnisobjekten" noch etwas existiert, das sie perzipiert: - "Gemüt, Geist, Seele oder das Ich" (§ 2). Es sei evident - folgert der Philosoph -, daß die "Ideen" nicht anders existieren können als in einem Geiste, der sie perzipiert. Um sich davon zu überzeugen, genüge es, sich die Bedeutung des Wortes "existieren" zu überlegen. "Sage ich, der Tisch, an dem ich schreibe,


ledge", vol. I of Werks, edited by A. Fraser (Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Bd. I der Werke, herausgegeben von A. Fraser. Die Red.), Oxford 1871. Es gibt eine russische Übersetzung. (Im vorliegenden Band mit einigen Abänderungen zitiert nach der deutschen Ausgabe Leipzig 1906. Der Übers.)

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existiert, so heißt das: ich sehe und fühle ihn; wäre ich außerhalb meiner Studierstube, so könnte ich seine Existenz in dem Sinne aussagen, daß ich, wenn ich in meiner Studierstube wäre, ihn perzipieren könnte..." Soweit Berkeley in § 3 seines Werkes, und er beginnt gleich hier gegen die Leute, die er Materialisten nennt (§§ 18, 19 u. a.), zu polemisieren. Für mich ist ganz unverständlich, sagt er, wie man von einer absoluten Existenz der Dinge ohne ihre Beziehung auf ihr Perzipiertwerden durch irgend jemand sprechen kann. Sein heißt Perzipiertwerden (their, d. h. der Dinge, esse is percipi, § 3, ist ein Ausspruch Berkeleys, der in den Lehrbüchern der Geschichte der Philosophie zitiert wird). "Es besteht in der Tat eine auffallend verbreitete Meinung, daß Häuser, Berge, Flüsse, mit einem Wort alle sinnlichen Objekte, eine natürliche oder reale Existenz haben, welche von ihrem Perzipiertwerden durch den denkenden Geist verschieden sei." (§ 4.) Diese Meinung bezeichnet Berkeley als "offenbaren Widerspruch". "Denn was sind die vorhin erwähnten Objekte anderes als die sinnlich von uns wahrgenommenen Dinge, und was perzipieren wir anderes als unsere eigenen Ideen oder Sinnesempfindungen (ideas or sensations)? - und ist es nicht völlig widersinnig, daß irgendeine solche oder irgendeine Verbindung derselben unwahrgenommen existiere?" (§ 4.)

Hier ersetzt Berkeley den Ausdruck Gruppen von Ideen durch den für ihn gleichbedeutenden Ausdruck Verbindungen von Empfindungen, wobei er die Materialisten des "widersinnigen" Bestrebens beschuldigt, noch weiter zu gehen und nach irgendeiner Quelle dieses Komplexes ... will sagen, dieser Verbindung von Empfindungen, zu suchen. In § 5 wird den Materialisten zur Last gelegt, daß sie sich mit einer Abstraktion abgeben, denn nach Berkeley ist es leere Abstraktion, die Empfindung vom Objekt trennen zu wollen. Am Schluß des Paragraphen 5, der in der zweiten Auflage weggelassen ist, sagt er: "In Wahrheit sind Objekt und Empfindung ein und dasselbe (are the same thing), weshalb sie voneinander nicht abstrahiert werden können." "Ihr sagt", schreibt Berkeley, "obschon die Ideen selbst nicht außerhalb des Geistes existieren, so kann es doch ihnen ähnliche Dinge, deren Kopien oder Ebenbilder (resemblances) sie sind, geben, und diese Dinge existieren außerhalb des Geistes in einer nichtdenkenden Substanz. Ich antworte: eine Idee kann nur einer Idee ähnlich sein, eine Farbe oder Figur nur einer anderen Farbe oder Figur... Außerdem frage ich, ob diese vorausgesetzten Originale oder äußeren Dinge,

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deren Abbilder oder Darstellungen unsere Ideen seien, selbst perzipierbar sind oder nicht. Sind sie es, dann sind sie Ideen, und wir haben erreicht, was wir wollen; sagt ihr dagegen, sie seien es nicht, so gebe ich jedem beliebigen die Entscheidung anheim, ob es einen Sinn habe, zu behaupten, eine Farbe sei ähnlich etwas Unsichtbarem, Härte oder Weichheit ähnlich etwas Untastbarem usw." (§ 8.)

Wie der Leser sieht, unterscheiden sich Basarows "Argumente" gegen Plechanow in der Frage, ob Dinge außerhalb von uns existieren können, auch wenn sie nicht auf uns einwirken, nicht um ein Haar von den Argumenten Berkeleys gegen die von ihm nicht namentlich genannten Materialisten. Für Berkeley ist der Gedanke an die Existenz von "Materie oder körperlicher Substanz" (§ 9) ein solcher "Widerspruch", etwas so "Absurdes", daß es eigentlich nicht lohne, auf seine Widerlegung Zeit zu verschwenden. "Aber", sagt er, "da die Lehre (tenet) von der Existenz der Materie so tiefe Wurzeln in den Geist der Philosophen geschlagen zu haben scheint und so viele böse Folgen nach sich zieht, will ich lieber für geschwätzig und langweilig gehalten werden, als etwas unterlassen, das dazu führen könnte, dieses Vorurteil völlig aufzudecken und auszumerzen." (§ 9.)

Wir werden gleich sehen, von was für bösen Folgen Berkeley spricht. Erledigen wir zuerst seine theoretischen Argumente gegen die Materialisten. Indem er die "absolute" Existenz der Objekte, d. h. die Existenz der Dinge außerhalb der menschlichen Erkenntnis, leugnet, stellt er die Anschauungen seiner Gegner direkt so dar, daß sie das "Ding an sich" anerkennen. In § 24 heißt es, von Berkeley hervorgehoben, daß diese von ihm bestrittene Ansicht die "absolute Existenz smi-ilid» wahrnehmbarer Objekte an sieb (objects in themselves) oder außerhalb des Qeistes" anerkenne (zit. Ausgabe, S. 167/168 [S. 33]). Hier sind die zwei Grundlinien der philosophischen Anschauungen mit der Geradheit, Klarheit und Deutlichkeit gekennzeichnet, die die Klassiker der Philosophie von den Erfindern der "neuen" Systeme unserer Zeit unterscheiden. Materialismus ist die Anerkennung der "Objekte an sich" oder außerhalb des Geistes; die Ideen und Empfindungen sind Kopien oder Abbilder dieser Objekte. Die entgegengesetzte Lehre (Idealismus) sagt: die Objekte existieren nicht "außerhalb des Geistes"; sie sind "Verbindungen von Empfindungen".

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Dies wurde 1710, d. h. 14 Jahre vor der Geburt Immanuel Kants geschrieben. Unsere Madlisten aber machten auf Grund der angeblich "neuesten" Philosophie die Entdeckung, daß das Anerkennen der "Dinge an sich" das Resultat der Ansteckung oder Entstellung des Materialismus durch den Kantianismus sei! Die "neuen" Entdeckungen der Machisten sind das Resultat ihrer erstaunlichen Ignoranz in der Geschichte der philosophischen Grundrichtungen.

Ihr nächster "neuer" Gedanke besteht darin, daß die Begriffe "Materie" oder "Substanz" ein Überbleibsel der alten unkritischen Anschauungen seien. Mach und Avenarius sollen das philosophische Denken weiterentwickelt, die Analyse vertieft und diese "Absoluta", die "unveränderlichen Wesenheiten" usw. beseitigt haben. Nehmen wir, um diese Behauptungen aus erster Quelle zu überprüfen, Berkeley, so werden wir sehen, daß sie nichts anderes sind als eine anmaßende Erfindung. Berkeley sagt mit aller Bestimmtheit, daß die Materie eine "nonentity" (ein Nichtseiendes, § 68), daß die Materie nichts sei (§ 80). "Ihr mögt", ironisiert Berkeley die Materialisten, "wenn euch das gut dünkt, das Wort , Materie' in dem nämlichen Sinne gebrauchen, worin andere das Wort ,nichts' gebrauchen." (Zit. Ausg., p. 196/197 [S. 63].) Zuerst, sagt Berkeley, glaubte man, daß Farben, Gerüche usw. "wirklich existieren", später ging man davon ab und erklärte, daß sie nur in Abhängigkeit von unseren Empfindungen existieren. Diese Beseitigung der alten irrtümlichen Begriffe ist aber nicht zu Ende geführt worden: übriggeblieben ist der Begriff "Substanz" (§ 73) - auch so ein "Vorurteil" ( p. 195 [S. 61]), das nun im Jahre 1710 durch Bischof Berkeley endgültig entlarvt wird! Im Jahre 1908 gibt es bei uns Spaßvögel, die den Avenarius, Petzoldt, Mach und Co. im Ernst glauben, daß es erst dem "neuesten Positivismus" und der "neuesten Naturwissenschaft" gelungen sei, diese "metaphysischen" Begriffe zu beseitigen.

Dieselben Spaßvögel (unter ihnen Bogdanow) versichern den Lesern, daß gerade die neue Philosophie das Irrtümliche der "Verdoppelung der Welt" in der Lehre der ewig widerlegten Materialisten klargemacht habe, nach deren Auffassung das Bewußtsein des Menschen die Dinge "widerspiegele", die außerhalb seines Bewußtseins existieren. Über diese "Verdoppelung" haben die obengenannten Schriftsteller eine Unmenge gefühlvoller Worte geschrieben. Aus Vergeßlichkeit oder aus Unwissenheit

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haben sie nicht hinzugefügt, daß diese neuen Entdeckungen schon im Jahre 1710 entdeckt worden sind.

"Unsere Erkenntnis derselben" (der Ideen oder Dinge), schreibt Berkeley, "ist sehr verdunkelt und verwirrt und wir sind zu sehr gefährlichen Irrtümern verleitet worden durch die Voraussetzung einer zweifachen (twofold) Existenz der Sinnesobjekte, einer intelligiblen in dem Geiste und einer realen außerhalb des Geistes" (d. h. außerhalb des Bewußtseins). Und Berkeley macht sich über diese "ungereimte" Anschauung lustig, die die Möglichkeit zulasse, das Undenkbare zu denken! Die Quelle der "Ungereimtheit" ist natürlich die Unterscheidung zwischen "Dingen" und "Ideen" (§ 87), die "Voraussetzung äußerer Objekte". Derselben Quelle entspringt nach der Entdeckung Berkeleys von 1710 und der Neuentdeckung Bogdanows von 1908 auch der Glaube an Fetische und Götzen. "Die Existenz einer Materie oder unwahrgenommener Körper", sagt Berkeley, "ist nicht nur die Hauptstütze der Atheisten und Fatalisten gewesen, sondern auf dem nämlichen Prinzip ruht ebenso auch der Götzendienst in allen seinen mannigfachen Formen." (§ 94.)

Hier kommen wir nun zu den "bösen" Folgen der "absurden" Lehre von der Existenz der Außenwelt, die den Bischof Berkeley veranlaßten, nicht nur theoretisch diese Lehre anzugreifen, sondern auch deren Anhänger leidenschaftlich als Feinde zu verfolgen. "Aus der Lehre von der Materie oder körperlichen Substanz", sagt er, "sind auch alle jene unfrommen Systeme des Atheismus und der Religionsverwerfung hervorgegangen ... Wie sehr die materielle Substanz den Atheisten aller Zeiten wert gewesen ist, bedarf nicht der Erwähnung. Alle ihre monströsen Systeme stehen in einer so offenbaren und notwendigen Abhängigkeit von ihr, daß, ist dieser Eckstein einmal weggenommen, das ganze Gebäude notwendig zusammenstürzen muß, so sehr, daß sich nicht länger der Zeitaufwand lohnen wird, eine besondere Betrachtung auf die Absurditäten einer jeden nichtswürdigen Sekte von Atheisten zu richten." (Zit. Ausg., § 92, S. 203/204 [S. 70/71].)

"Ist einmal die Materie aus der Natur ausgetrieben, so nimmt sie mit sich fort so manche skeptische und unfromme Vorstellungen, solch eine unglaubliche Zahl von Streitigkeiten und verwirrenden Fragen" ("Prinzip der Denkökonomie", entdeckt von Mach in den siebziger Jahren des 19. Jh.! - "Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des

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kleinsten Kraftmaßes" von Avenarius 1876!), "die sowohl für Theologen als auch für Philosophen Dornen gewesen sind und den Menschen so viele fruchtlose Arbeit gemacht haben, daß, wenn die Gründe, die wir dagegen aufgestellt haben, nicht beweiskräftig gefunden werden (was sie meines Erachtens doch offenbar sind), ich doch dessen gewiß bin, daß alle Freunde der Erkenntnis, des Friedens und der Religion Grund haben zu wünschen, sie wären es." (§ 96.)

Wie aufrichtig und schlicht die Betrachtungen des Bischofs Berkeley sind! Heutzutage werden dieselben Gedanken von der "ökonomischen" Entfernung der "Materie" aus der Philosophie in eine viel schlauere und durch eine "neue" Terminologie komplizierte Form gekleidet, damit diese Gedanken von naiven Leuten für die "neueste" Philosophie gehalten werden!

Doch war Berkeley nicht nur offenherzig hinsichtlich der Tendenzen seiner Philosophie, sondern er versuchte auch ihre idealistische Blöße zu bemänteln und sie als frei von Ungereimtheiten und für den "gesunden Menschenverstand" annehmbar darzustellen. Durch unsere Philosophie - sagte er, sich instinktiv gegen den Vorwurf dessen wehrend, was man jetzt subjektiven Idealismus oder Solipsismus nennen würde " durch unsere Philosophie "gehen wir keines einzigen Naturobjekts verlustig" (§ 34). Die Natur bleibt, und es bleibt auch der Unterschied zwischen Realitäten und Chimären - jedoch "existieren beide gleichmäßig in dem Geiste". "Ich bestreite nicht die Existenz irgendeines Dinges, das wir durch Sinneswahrnehmung oder durch Reflexion zu erkennen vermögen. Daß die Dinge, die ich mit meinen Augen sehe und mit meinen Händen betaste, existieren, wirklich existieren, bezweifle ich nicht im mindesten. Das einzige, dessen Existenz wir in Abrede stellen, ist das, was die Philosophen (hervorgehoben von Berkeley) Materie oder körperliche Substanz nennen. Und indem dies geschieht, verlieren die übrigen Menschen nichts, die, wie ich wohl sagen darf, diese Materie nicht vermissen werden... Allerdings werden die Atheisten die anscheinende Stütze verlieren, welche ein leeres Wort ihrer unfrommen Ansicht gewährt..."

Noch klarer wird dieser Gedanke in § 37 ausgedrückt, in dem Berkeley auf die Beschuldigung, seine Philosophie hebe die körperlichen Substanzen auf, antwortet: "Wenn das Wort Substanz in dem gewöhnlichen (vulgar) Sinne genommen wird, als Bezeichnung einer Verbindung sinnfälliger

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Eigensdiaften wie Ausdehnung, Solidität, Gewicht und ähnlicher, so können wir nicht beschuldigt werden, dies zu negieren; wird es aber in einem philosophischen Sinne genommen, worin es den Träger von Akzidenzien oder Eigenschaften", (existierend) "außerhalb des Geistes, bezeichnen soll, dann erkenne ich in der Tat an, daß wir das hiermit Gemeinte aufheben, wenn anders von jemand gesagt werden kann, daß er etwas aufhebe, was niemals eine Existenz gehabt hat, selbst nicht in der bloßen Vorstellung."

Der englische Philosoph Fraser, ein Idealist und Berkeleyaner, der Berkeleys Werke herausgegeben und mit eigenen Anmerkungen versehen hat, bezeichnet die Lehre Berkeleys nicht umsonst als "natürlichen Realismus" (zit. Ausg., p. X). Diese komische Terminologie muß unbedingt hervorgehoben werden, da sie in der Tat Berkeleys Absicht zum Ausdruck bringt, Realismus vorzutäuschen. Wir werden in unseren weiteren Ausführungen noch vielfach auf die "neuesten" "Positivisten" stoßen, die in anderer Form, in andere Worte gekleidet, genau denselben Kniff oder dieselbe Fälschung wiederholen. Berkeley leugnet nicht die Existenz der realen Dinge! Berkeley bricht nicht mit der Meinung der ganzen Menschheit! Berkeley verneint "nur" die Lehre der Philosophen, d. h. die Erkenntnistheorie, die ernsthaft und entschieden die Anerkennung der Außenwelt und ihrer Widerspiegelung im Bewußtsein der Menschen zur Grundlage aller ihrer Überlegungen macht. Berkeley verneint nicht die Naturwissenschaft, die immer (meistens unbewußt) auf dem Standpunkt dieser, d. h. der materialistischen, Erkenntnistheorie gestanden hat und steht: "Wir können", lesen wir in § 59, "nach der Erfahrung" (Berkeley - Philosophie der "reinen Erfahrung" *, "die wir von dem Lauf und der Aufeinanderfolge unserer Ideen gemacht haben..., imstande sein, richtig darüber zu urteilen, was uns erschienen sein würde" (oder: was wir gesehen hätten), "im Falle wir in Lagen wären, welche sehr verschieden von denjenigen sind, in welchen wir uns gegenwärtig befinden. Hierin besteht die Naturerkenntnis, die" (man höre!) "ihren Nutzen und ihre Gewißheit in sehr guter Übereinstimmung mit dem oben Gesagten behalten kann."

Laßt uns die Außenwelt, die Natur für eine "Verbindung von Empfin-


* Fraser beharrt in seiner Vorrede darauf, daß Berkeley ebenso wie Locke "sich ausschließlich auf die Erfahrung beruft" (p. 117).

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dungen" halten, die durch die Gottheit in unserem Geiste hervorgerufen werden. Akzeptiert das und laßt davon ab, außerhalb des Bewußtseins, außerhalb des Menschen die "Grundlagen" dieser Empfindungen zu suchen, dann werde ich im Rahmen meiner idealistischen Erkenntnistheorie die ganze Naturwissenschaft, den ganzen Nutzen und die Gewißheit ihrer Schlüsse anerkennen. Ich brauche gerade diesen Rahmen und nur diesen Rahmen für meine Schlüsse zugunsten "des Friedens und der Religion". Dies ist Berkeleys Gedankengang. Diesem Gedankengang, der das Wesen der idealistischen Philosophie und ihre gesellschaftliche Bedeutung richtig ausdrückt, werden wir noch später begegnen, wenn von der Stellung des Machismus zur Naturwissenschaft die Rede sein wird.

Jetzt wollen wir noch eine der neuesten Entdeckungen vermerken, die der neueste Positivist und kritische Realist P. Juschkewitsch im 20. Jahrhundert bei Bischof Berkeley entlehnt hat. Diese Entdeckung ist der "Empiriosymbolismus". Berkeleys "Lieblingstheorie", sagt A. Fraser, ist die Theorie des "universellen natürlichen Symbolismus" (zit. Ausg., p. 190) oder "Natursymbolismus" (Natural Symbolism). Ständen diese Worte nicht in einer im Jahre 1871 erschienenen Publikation, so könnte man den englischen Philosophen und Fidelsten Fraser des Plagiats an dem modernen Mathematiker und Physiker Poincare und an dem russischen "Marxisten" Juschkewitsch verdächtigen!

Berkeleys Theorie selbst, die Fraser so sehr entzückte, wird von dem Bischof in folgenden Worten dargelegt:

"Die Verbindung der Ideen" (nicht zu vergessen, daß für Berkeley Ideen und Dinge ein und dasselbe sind) "schließt nicht das Verhältnis von Ursache und Wirkung in sich, sondern nur das Verhältnis eines Merkmals oder Zeichens zu dem bezeichneten Objekt." (§ 65.) "Hieraus ist offenbar, daß die Dinge, welche unter dem Begriff einer mitwirkenden oder zur Hervorbringung von Wirkungen beitragenden Ursache (under the notion of a cause) unerklärbar sind und uns in große Ungereimtheiten verwickeln, sehr naturgemäß sich erklären lassen ..., wenn sie nur als Merkmale oder Zeichen, die zu unserer Belehrung dienen, betrachtet werden." (§ 66.) Selbstverständlich werden wir, nach der Auffassung Berkeleys und Fräsers, vermittels dieser "Empiriosymbole" durch niemand anders belehrt als durch die Gottheit. Die erkenntnistheoretische Bedeutung des Symbolismus in Berkeleys Theorie aber besteht darin, daß der Symbolis-

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mus die "Lehre" zu ersetzen hat, "die den Anspruch erhebt, Dinge durch körperliche Ursachen zu erklären" (§ 66).

Wir haben also zwei philosophische Richtungen in der Frage der Kausalität vor uns. Die eine "erhebt den Anspruch, Dinge durch körperliche Ursachen zu erklären", und es ist klar, daß sie mit der "absurden" und von Bischof Berkeley widerlegten "Lehre von der Materie" zusammenhängt. Die andere Richtung reduziert den "Begriff der Ursache" auf den Begriff eines "Merkmals oder Zeichens", das "zu unserer Belehrung" (durch Gott) dient. Diesen beiden Richtungen, nur im Gewand des 20. Jahrhunderts, werden wir wieder begegnen, wenn wir die Stellung des Machismus und des dialektischen Materialismus zu der hier behandelten Frage analysieren.

Weiter muß zum Problem der Realität noch bemerkt werden, daß Berkeley, der die Existenz der Dinge außerhalb des Bewußtseins bestreitet, ein Kriterium zur Unterscheidung von Realem und Fiktivem sucht. In § 36 sagt er, daß jene "Ideen", die der menschliche Geist nach Belieben hervorbringt, "matt, schwach und unbeständig sind im Vergleich mit anderen, die wir durch die Sinne perzipieren, und die, indem sie uns nach gewissen Regeln oder Naturgesetzen eingeprägt werden, sich selbst als Wirkungen eines Geistes bekunden, der mächtiger und weiser ist als der menschliche Geist. Von diesen letzteren Ideen wird gesagt, daß sie mehr Realität in sich tragen als die ersteren, worunter zu verstehen ist, daß sie stärker afftzieren, mehr geordnet und bestimmt und nicht willkürliche Gebilde des sie perzipierenden Geistes sind ..." An einer anderen Stelle (§ 84) versucht Berkeley, den Begriff des Realen mit der gleichzeitigen Wahrnehmung ein und derselben Sinnesempfindung durch mehrere Personen zu verbinden. Zum Beispiel, wie soll die Frage gelöst werden, ob die Verwandlung von Wasser in Wein, von der uns, angenommen, erzählt wird, real ist? "Wenn bei Tisch alle Anwesenden Wein sehen und riechen und schmecken und trinken und die Wirkungen desselben vorfinden, kann nach mir kein Zweifel an der Realität desselben bestehen." Und dazu die Erläuterung Frasers: "Das gleichzeitige Auffassen derselben sinnlichen Ideen durch verschiedene Personen wird hier, im Unterschied zum rein individuellen oder persönlichen Auffassen eingebildeter Objekte und Gefühle, als Beweis für die 'kealität der Ideen der ersten Art genommen."

Daraus wird klar, daß man Berkeleys subjektiven Idealismus nicht so

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verstehen darf, als ob er den Unterschied zwischen der einzelnen und der kollektiven Wahrnehmung ignoriere. Im Gegenteil, auf diesem Unterschied versucht er das Kriterium der Realität aufzubauen. Er kommt auf diese Weise, die "Ideen" aus der Einwirkung einer Gottheit auf den menschlichen Geist ableitend, an den objektiven Idealismus heran: die Welt erweist sich nicht als meine Vorstellung, sondern als das Resultat einer obersten geistigen Ursache, die sowohl die "Naturgesetze" als auch die Gesetze des Unterschiedes der "realeren" Ideen von den weniger realen usw. schafft.

In einem anderen seiner Werke, "Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous" (1713), in dem Berkeley sich bemüht, seine Ansichten besonders populär darzulegen, stellt er den Gegensatz zwischen seiner und der materialistischen Lehre folgendermaßen dar:

"Ich behaupte so gut wie du" (der Materialist), "da wir von außen her erregt werden, so müssen wir Kräfte, die außerhalb (von uns) bestehen, annehmen in einem von uns unterschiedenen Wesen. Aber nun gehen wir bezüglich der Art dieses kraftbegabten Wesens auseinander. Ich will, es solle ein Seelenwesen sein, du - Materie oder ich weiß nicht welche (ich könnte hinzufügen, du weißt nicht welche) dritte Natur ..." (Zit. Ausg., S. 335 [S. 101].)*

Fraser kommentiert: "Dies ist der Kern der ganzen Frage. Nach den Materialisten werden die Sinneserscheinungen durch eine materielle Substanz oder durch eine unbekannte ,dritte Natur' hervorgerufen; nach Berkeley durch einen rationellen Willen; nach Hume und den Positivisten ist ihr Ursprung absolut unbekannt, und wir können sie bloß als Tatsachen, auf induktivem Wege, gemäß der Gewohnheit, verallgemeinern."

Der englische Berkeleyaner Fraser kommt hier von seinem konsequent idealistischen Standpunkt aus an die gleichen Grundlinien" in der Philo- sophie heran, die von dem Materialisten Engels so klar charakterisiert wurden. Dieser teilt in seiner Schrift "Ludwig Feuerbach" die Philosophen in "zwei große Lager": in Materialisten und Idealisten. Engels, der viel entwickeltere, mannigfaltigere und inhaltsreichere Theorien beider Richtungen in Betracht zieht als Fraser, sieht den Hauptunterschied zwischen ihnen darin, daß für die Materialisten die Natur das Ursprüngliche ist


* Im vorliegenden Band mit einigen Abänderungen zitiert nach der deutsdien Ausgabe Leipzig 1901. Der Übers.

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und der Geist das Sekundäre, für die Idealisten aber umgekehrt. Zwischen diese und jene stellt Engels die Anhänger von Hume und Kant, als solche, die die Möglichkeit einer Erkenntnis der Welt oder doch ihrer erschöpfenden Erkenntnis bestreiten, und er bezeichnet sie als Agnostiker.(18) In seinem "Ludwig Feuerbach" wendet Engels diesen Terminus nur auf die Anhänger Humes an (dieselben, die Fräser "Positivisten" nennt und die sich selbst gern so nennen); in seinem Artikel "über historischen Materialismus" aber spricht er direkt über den Standpunkt des "neukantiantianiscben Agnostikers" (19) und betrachtet den Neukantianismus (20) als eine Spielart des Agnostizismus.*

Wir können uns hier nicht bei dieser so außerordentlich richtigen und tiefen Betrachtung von Engels aufhalten (einer Betrachtung, die von den Machisten skrupellos ignoriert wird). Ausführlich werden wir darauf später eingehen. Vorläufig begnügen wir uns mit dem Hinweis auf diese marxistische Terminologie und auf dieses Zusammentreffen der Extreme: der Auffassung eines konsequenten Materialisten und der eines konsequenten Idealisten über die philosophischen Grundrichtungen. Um diese Richtungen (mit denen wir im Verlauf der weiteren Darstellung ständig zu tun haben werden) zu beleuchten, vermerken wir kurz die Auffassungen der größten Philosophen des 18. Jahrhunderts, die einen anderen Weg als Berkeley einschlugen.

Hier Humes Betrachtungen in der "Untersuchung über den menschlichen Verstand" im Abschnitt (12) über die skeptische Philosophie: "Es scheint offenbar, daß die Menschen durch einen natürlichen Instinkt oder eine Voreingenommenheit dazu getrieben werden, Vertrauen in ihre Sinne zu setzen, und daß wir ohne Vernunfttätigkeit, ja selbst fast vor dem Gebrauch der Vernunft, immer schon eine Außenwelt (extemal universe) annehmen, die nicht von unserer Wahrnehmung abhängt, sondern auch existieren würde, wenn wir und jedes bewußte Geschöpf abwesend oder vernichtet wären. Selbst das Tierreich wird von einer gleichen Anschauung


* Friedrich Engels, "Über historischen Materialismus", "Neue Zeit"21, XI. Jg., Bd. I (1892/1893), Nr. l, S. 18. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Engels selbst. (Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 22, Berlin 1963, S. 287-311. Der Übers.) Die russische Übersetzung im Sammelband "Der historische Materialismus" (St. Petersburg 1908, S. 167) ist ungenau.

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beherrscht und bewahrt diesen Glauben an äußere Gegenstände in all seinen Gedanken, Zwecken und Handlungen... Aber diese allgemeine und ursprüngliche Meinung aller Menschen wird durch den leisesten (slightest) Anflug von Philosophie bald zerstört, die uns lehrt, daß nichts dem Geiste je gegenwärtig sein kann als nur ein Bild oder eine Wahrnehmung, daß die Sinne nur die Einlaßpforten (inlets) sind, durch welche diese Bilder übermittelt werden, und daß sie nicht imstande sind, einen unmittelbaren Verkehr (intercourse) zwischen dem Geiste und dem Gegenstand zu bewirken. Der Tisch, den wir sehen, scheint kleiner zu werden, wenn wir uns von ihm entfernen; der wirkliche Tisch dagegen, der unabhängig von uns existiert, erleidet keine Veränderung. Es war daher nur sein Bild (Image), das dem Geiste gegenwärtig war. Dies sind die klaren gebieterischen Aussagen der Vernunft, und kein Besonnener hat je daran gezweifelt, daß die Daseinsformen (existences), die wir im Auge haben, wenn wir sagen: dieses Haus und jener Baum, nur Wahrnehmungen unseres Geistes sind... Durch welche Begründung läßt sich beweisen, daß die Wahrnehmungen des Geistes durch äußere Gegenstände verursacht sein müssen, die von ihnen ganz verschieden, ihnen doch ähnlich sind (wenn anders das möglich ist), und daß sie nicht aus der Energie des Geistes selbst entspringen könnten oder aus der Eingebung irgendeines unsichtbaren und unbekannten Geistes oder aus einer uns noch weniger bekannten Ursache sonst?... Wie soll diese Frage entschieden werden? Sicherlich durch Erfahrung, wie alle anderen Fragen gleicher Art. Aber hier schweigt die Erfahrung völlig und muß es tun. Dem Geiste ist nie etwas anderes gegenwärtig als Wahrnehmungen, und er kann unmöglich eine Erfahrung über ihre Verknüpfung mit Gegenständen gewinnen. Daher ist die Annahme einer solchen Verknüpfung ohne jede Grundlage in der Vemunfttätigkeit. Zu der Wahrhaftigkeit des Höchsten Wesens seine Zuflucht nehmen, um die Wahrhaftigkeit unserer Sinne zu beweisen, heißt sicherlich einen sehr unerwarteten Kreis beschreiben... Wir wären in Verlegenheit, stellen wir einmal die Außenwelt in Frage, Begründungen zu finden, durch die wir das Dasein dieses Wesens beweisen könnten." *


* David Hume, "An Enquiry concerning Human Understanding", Essays and Treatises, vol. II, London 1822, pp. 150-153 (Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Skizzen und Traktate, Bd. II, London 1822, S. 150 bis weiter..

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  Dasselbe sagt Hume in seinem "Traktat über die menschliche Natur", Teil IV, Abschnitt II: "Vom Skeptizismus in bezug auf die Sinne". "Unsere Wahrnehmungen sind unsere einzigen Objekte." (p. 281 der franz. Übersetzung von Renouvier und Pillon, 1878.) * Skeptizismus nennt Hume den Verzicht darauf, die Empfindungen durch die Einwirkung der Dinge, des Geistes usw. zu erklären, den Verzicht darauf, die Wahrnehmungen einerseits auf die Außenwelt, anderseits auf die Gottheit oder einen unbekannten Geist zurückzuführen. Und der Verfasser der Einleitung zu der französischen Übersetzung von Humes Werk, F. Pillon, ein Philosoph, der (wie wir weiter unten sehen werden) einer Mach verwandten Richtung angehört, sagt ganz richtig, daß für Hume Subjekt und Objekt sich auf "Gruppen verschiedener Wahrnehmungen", auf "Elemente des Bewußtseins, Eindrücke, Ideen usw." reduzieren, daß nur von "Gruppierung und Kombination dieser Elemente" die Rede sein müsse.** Ebenso betont der englische Humeist Huxley, der Schöpfer des treffenden und richtigen Ausdrucks "Agnostizismus", in seinem Buch über Hume, daß Hume, der die "Empfindungen" als "primäre, unzerlegbare Bewußtseinszustände" betrachte, in der Frage, ob man die Entstehung der Empfindungen durch die Wirkung der Objekte auf den Menschen oder durch die schöpferische Kraft des Geistes erklären soll, nicht ganz konsequent sei. "Realismus und Idealismus nimmt er" (Hume) "als gleich wahrscheinliche Hypothesen an." *** Hume geht nicht über die Empfindungen hinaus: "Die rote und die blaue Farbe, der Duft einer Rose sind einfache Eindrücke ... Aber eine rote Rose gibt uns einen zusammengesetzten Eindruck (complex Impression), der in die einfachen Eindrücke von roter Farbe, Rosenduft u. a. zerlegt werden kann." (Ebenda, pp. 64/65.) Hume läßt sowohl eine "materialistische Stellung" als auch eine "idealistische"


153. Die Red.). (Hier mit einigen Abänderungen zitiert nach der deutschen Ausgabe Leipzig 1928, S. 177-180. Der Tibers.)
* Hier zitiert nach der deutschen Ausgabe Hamburg und Leipzig 1895, S. 282. Der Tibers.
** Psychologie de Hume. Traite de la nature humaine etc. Trad. par Ch. Renouvier et F. Pillon, Paris 1878, Introduction, p. X (Die Psychologie Humes. Traktat über die menschliche Natur etc. übers, von Ch. Renouvier und F. Pillon, Paris 1878, Einleitung, S. X. Die ;Red.).
*** Th. Huxley, "Hume", London 1873. p. 74.

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zu (p. 82): Ein "Wahrnehmungskomplex" kann sowohl dem Fichteschen "Ich" entstammen als auch eine "Abbildung oder zumindest ein Symbol" von etwas Realem (real something) sein. So wird Hume von Huxley interpretiert.

Was die Materialisten anbetrifft, so sei hier das Urteil Diderots, des Hauptes der Enzyklopädisten 22, über Berkeley wiedergegeben: "Idealisten werden diejenigen Philosophen genannt, die nur ihre eigene Existenz und die Existenz der Empfindungen, die sich in ihnen selbst abspielen, und nichts anderes anerkennen. Ein extravagantes System, das seine Entstehung, wie mir scheint, nur Blinden zu verdanken haben kann! Und dieses System ist zur Schande des menschlichen Geistes und der Philosophie am schwierigsten zu widerlegen, obwohl es am absurdesten ist." * Und Diderot, der der Auffassung des modernen Materialismus (daß Argumente und Syllogismen allein nicht genügen, um den Idealismus zu widerlegen, daß es hier nicht um theoretische Argumente geht) ganz nahe kommt, hebt die Ähnlichkeit der Annahmen des Idealisten Berkeley und des Sensualisten Condillac hervor. Condillac hätte sich seiner Meinung nach damit abgeben sollen, Berkeley zu widerlegen, um so absurden Folgerungen vorzubeugen, die aus der Anschauung stammen, daß die Empfindungen die einzige Quelle unserer Erkenntnis seien.

In der "Unterhaltung zwischen d'Alembert und Diderot" legt Diderot seine philosophischen Ansichten folgendermaßen dar: "... Nehmen Sie nun einmal beim Spinett Empfindsamkeit und Gedächtnis an: meinen Sie nicht, es wird ganz von selbst die Melodien wiederholen, die Sie auf seinen Tasten gespielt haben? Wir sind mit Empfindsamkeit und Gedächtnis begabte Instrumente. Unsere Sinne sind ebenso eine Art von Tasten, die von der um uns befindlichen Natur angeschlagen werden, sich aber auch oft von allein anschlagen; und ganz genauso, meines Erachtens, geht alles vor sich in einem wie Sie und ich eingestimmten Spinett." D'Alembert antwortet, daß ein solches Spinett auch die Fähigkeit haben müßte, sich zu ernähren und kleine Spinette zu zeugen. - Ohne Zweifel, erwidert


* CEuvres complètes de Diderot, éd. par J. Assézat, Paris 1875, vol. I, p. 304 (Diderot, Sämdiche Werke, herausgegeben von J. Assezat, Paris 1875, Bd. I, S. 304. Die R.ed.). (Im vorliegenden Band mit einigen Abänderungen zitiert nach: Denis Diderot, Philosophische Schriften, Berlin 1961, Erster Band, S. 73/74. Der Übers.)

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Diderot. Aber sehen Sie dieses Ei an. "Damit stürzt man alle Theologieschulen und alle Tempel auf Erden. Was ist dieses Ei eigentlich? Eine empfindungslose Masse, ehe der Keim hineingebracht ist; was aber, wenn der nun drinnen ist? Eine empfindungslose Masse, denn der Keim selbst ist nichts als ein lebloses, rohes Fluidum. Wie gelangt nun diese Masse zu einer neuen Verfassung, zur Empfindsamkeit, zum Leben? Durch die Wärme. Wer erzeugt die Wärme? Die Bewegung." Das aus dem Ei ausgeschlüpfte Tier hat all Ihre Affekte; all Ihre Tätigkeiten verrichtet es. "Wollen Sie mit Descartes vorgeben, es handele sich nur um eine nachahmende Maschine? Aber dann werden die Kinder Sie auslachen und die Philosophen Ihnen entgegnen, daß, wenn jenes eine Maschine sei, Sie erst recht eine seien. Wenn Sie zugeben, daß zwischen dem Tier und Ihnen ein Unterschied nur in der Verfassung besteht, dann bezeigen Sie Sinn und Vernunft, dann sind Sie in gutem Glauben; aber gegen Sie wird man da den Schluß ziehen, daß man mit einer leblosen Materie, die auf eine bestimmte Art zugerichtet und mit einer anderen leblosen Materie, und zwar Wärme und Bewegung, befruchtet ist, Empfindsamkeit, Leben, Gedächtnis, Bewußtsein, Gefühle, Gedanken erzielen könne." Sie können nur, fährt Diderot fort, eins von beiden wählen: entweder im Ei irgendein "verborgenes Element" annehmen, das in einem bestimmten Augenblick der Entwicklung auf unbekannte Weise ins Ei eindringt, ein Element, von dem man nicht weiß, ob es räumlich, materiell oder willkürlich geschaffen ist; das ist gegen den gesunden Menschenverstand und führt zu Widersprüchen und zur Absurdität; oder "eine einfache Voraussetzung anerkennen, die alles klärt, nämlich die Empfindsamkeit als Allgemeinbesitz der Materie oder als Produkt der inneren Verfassung". Auf den Einwand d'Alemberts, diese Voraussetzung nehme eine Eigenschaft an, die mit der Materie dem Wesen nach unvereinbar sei, antwortet Diderot:

"Und woher wissen Sie, daß die Empfindsamkeit dem Wesen nach unvereinbar ist mit der Materie, da Sie die Wesenheit weder der Materie noch der Empfindsamkeit kennen? Verstehen Sie vielleicht besser die Natur der Bewegung, ihr Dasein in einem Körper und ihre Übermittlung von einem Körper zum anderen?" D'Alembert: "Ohne gerade die Natur der Empfindsamkeit oder der Materie zu begreifen, sehe ich doch, daß die Empfindsamkeit eine einfache Eigenschaft ist, einheitlich, unteilbar und unvereinbar mit einem teilbaren Subjekt oder Träger (suppôt)." Diderot:

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"Metaphysisch-theologischer Galimathias! Was, Sie sollten nicht sehen, daß all die Eigenschaften, all die empfindsamen Gebilde, mit denen die Materie ausgestattet ist, dem Wesen nach unteilbar sind? Es gibt weder mehr noch weniger Undurchdringlichkeit. Es gibt die Hälfte eines runden Körpers, aber nicht die Hälfte der Rundheit..." "Geben Sie doch als Physiker die Erzeugung einer Wirkung zu, sobald Sie sie erzeugt sehen, wiewohl Sie die Verbindung der Lirsache mit der Wirkung nicht erklären können. Unterschieben Sie doch als Logiker einer Ursache, die ist und alles erklärt, nicht eine andere, die unbegreiflich ist, bei der man die Verbindung mit der Wirkung noch minder begreift, die eine endlose Menge von Schwierigkeiten gebiert und doch ihrer keine löst!" D'Alembert: "Aber wenn ich mich nun dieser Ursache begebe?" Diderot: "Es gibt nur eine Substanz im All, im Menschen, im Tier. Die Zeisigorgel ist aus Holz, der Mensch aus Fleisch; der Zeisig ist aus Fleisch, der Musiker aus einem davon verschieden gearteten Fleisch; aber beide haben ein und denselben Ursprung, ein und dieselbe Entstehung, die gleichen Funktionen und das gleiche Ende." D'Alembert: "Und wie erklärt sich der Einklang der Töne bei Ihren zwei Spinetten?" Diderot: "...Das empfindsame Instrument oder das Tier hat herausgebracht, daß bei der Äußerung dieses oder jenes Tones diese oder jene Wirkung außerhalb seiner erfolge, daß andere, ihm ähnliche empfindsame Instrumente oder andere ähnliche Tiere näher kamen, sich entfernten, fragten, sich darboten, anstießen und kosten; diese Wirkungen haben sich in seinem und der anderen Gedächtnis mit der Bildung dieser Töne verbunden; beachten Sie noch, daß es im Verkehr der Menschen untereinander nur Geräusche und Handlungen gibt. Und daß ich nun meinem System seine ganze Beweiskraft gebe, beachten Sie noch außerdem, daß es der nämlichen unüberwindlichen Schwierigkeit unterworfen ist, die Berkeley gegen die Existenz der Körper geltend gemacht hat. Es gibt einen Moment des Taumels, wo das empfindsame Spinett dachte, es sei das einzige Spinett, so auf der Welt vorhanden sei, und daß die ganze Harmonie des Alls in ihm ablaufe." *

Das ist 1769 geschrieben worden. Und damit schließen wir unseren


* Ebenda, vol. II, pp. 114-118. (Im vorliegenden Band mit einigen Abänderungen zitiert nach der deutschen Ausgabe Stuttgart 1923, S. 22-27. Neu erschienen in: Denis Diderot, Philosophische Schriften, Berlin 1961, Erster Band, S. 518-521. Der Übers.)

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kleinen geschichtlichen Streifzug. Dem "taumelnden Spinett" und der Weltharmonie, die in dem Menschen vor sich geht, werden wir bei der Analyse des "neuesten Positivismus" noch mehr als einmal begegnen.

Vorläufig beschränken wir uns auf die eine Schlußfolgerung: Die "neuesten" Machisten haben gegen die Materialisten kein einziges, buchstäblich kein einziges Argument vorgebracht, dessen sich nicht auch schon Bischof Berkeley bedient hätte.

Als Kuriosum wollen wir noch vermerken, daß einer dieser Machisten, Walentinow, aus dem unklaren Gefühl heraus, daß seine Stellung falsch ist, hinsichtlich seiner Verwandtschaft mit Berkeley auf ziemlich amüsante Art "die Spuren verwischen" wollte. Auf S. 150 seines Buches lesen wir: "... Wenn man, von Mach sprechend, auf Berkeley schielt, so fragen wir, welchen Berkeley man meint. Den Berkeley, der sich traditionsgemäß als Solipsisten betrachtet" (Walentinow meint: der... betrachtet wird), "oder den Berkeley, der die unmittelbare Gegenwart und Vorsehung Gottes verteidigt? Allgemein ausgedrückt (?): Berkeley, den philosophierenden Bischof, der den Atheismus vernichtet, oder Berkeley, den tiefen Analytiker? Mit dem Berkeley, der Solipsist und Prediger der religiösen Metaphysik ist, hat Mach wirklich nichts zu tun." Walentinow verhaspelt sich, da er sich keine klare Rechenschaft darüber geben kann, warum er genötigt war, den "tiefen Analytiker" und Idealisten Berkeley gegen den Materialisten Diderot zu verteidigen. Diderot hat die philosophischen Grundrichtungen einander deutlich gegenübergestellt. Walentinow bringt sie durcheinander und tröstet uns dabei auf recht komische Art: "Wir halten", schreibt er, "Machs , Verwandtschaft' mit den idealistischen Auffassungen Berkeleys für kein philosophisches Verbrechen, selbst wenn diese Verwandtschaft wirklich existierte." (149.) Die beiden unversöhnlichen Grundrichtungen in der Philosophie durcheinanderwerfen - warum sollte das ein "Verbrechen" sein? Darauf reduziert sich ja die ganze Weisheit von Mach und Avenarius. Zur Analyse dieser Weisheit gehen wir nun über.



Datum der letzten Änderung : Jena, den : 20.08.2013