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Sechstes Kapitel
Das achtzehnte Jahrhundert
1. Hofleben in Deutschland

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Dem Beispiel Ludwigs XIV. von Frankreich folgend, entfaltete die große Mehrzahl der in jener Zeit außerordentlich zahlreichen deutschen Fürstenhöfe eine Verschwendung in allerlei Glanz und Flitter und namentlich durch ihre Mätressenwirtschaft, die im umgekehrten Verhältnis zur Größe und Leistungsfähigkeit der Länder und Ländchen stand. Die Geschichte der Fürstenhöfe des achtzehnten Jahrhunderts gehört zu den häßlichsten Kapiteln der Geschichte. Ein Potentat suchte den anderen an hohler Aufgeblasenheit, verrückter Verschwendungssucht und kostspieligen militärischen Spielereien zu übertreffen. Vor allem aber wurde in toller Weiberwirtschaft das Unglaublichste geleistet. Es ist schwer zu sagen, welchem von den vielen deutschen Höfen in dieser verschwenderischen, das öffentliche Leben korrumpierenden Lebensweise die Palme gebührt. Heute war es dieser, morgen jener Hof, kein deutscher Staat blieb von diesem Treiben verschont. Der Adel machte es den Fürsten nach und in den Residenzstädten die Bürger wieder dem Adel. Hatte die Tochter einer bürgerlichen Familie das Glück, einem hohen Herrn am Hofe oder gar Serenissimus zu gefallen, so war dieselbe unter zwanzig Fällen neunzehnmal von dieser Gnade aufs höchste beglückt, und die Familie war bereit, sie zur adligen oder fürstlichen Mätresse herzugeben. Dasselbe war bei den meisten Adelsfamilien der Fall, wenn eine ihrer Töchter das Wohlgefallen des Fürsten fand, Charakterlosigkeit und Schamlosigkeit beherrschten weite Kreise.

Mit am schlimmsten stand es in den beiden deutschen Hauptstädten, in Wien und Berlin. Im deutschen Capua, in Wien, herrschte zwar einen großen Teil des Jahrhunderts die sittenstrenge Maria Theresia, aber sie war ohnmächtig gegenüber dem Treiben eines reichen, in sinnlichen Genüssen versunkenen Adels und der ihm nacheifernden bürgerlichen Kreise. Mit ihren Keuschheitskommissionen, die sie nie-

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dersetzte und mit Hilfe deren ein ausgedehntes Spioniersystem organisiert wurde, rief sie teils Erbitterung hervor, teils machte sie sich lächerlich damit. Der Erfolg war gleich Null. Im frivolen Wien machten in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts Sprüchlein die Runde wie jene: "Man muß seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das heißt, man muß das Weib eines anderen so lieb haben wie sein eigenes." Oder: "Wenn die Frau rechts geht, darf der Mann links marschieren. Nimmt sie sich einen Aufwärter, so sucht er sich eine Freundin." Wie frivol man in jener Zeit über Ehe und Ehebrüche dachte, geht aus einem Briefe des Dichters E. Chr. v. Kleist hervor, den dieser 1751 an seinen Freund Gleim schrieb. Darin hieß es: "Sie wissen doch schon die Aventure des Markgrafen Heinrich. Er hat seine Gemahlin auf seine Güter geschickt und will sich von ihr separieren, weil er den Prinzen von Holstein bei ihr im Bette getroffen hat ... Der Markgraf hätte wohl besser getan, wenn er den Handel verschwiegen hätte, statt daß er jetzt ganz Berlin und die halbe Welt von sich sprechen macht. Überdem soll man eine so natürliche Sache nicht so übelnehmen, zumal wenn man selber nicht so glaubensfest ist wie der Markgraf. Der Ekel ist doch ganz unausbleiblich in der Ehe, und alle Männer und Frauen sind durch ihre Vorstellungen von anderen liebenswürdigen Personen nezessicret, untreu zu sein. Wie kann dies bestraft werden, wozu man gezwungen ist?" Über die Zustände in Berlin schrieb 1772 der englische Gesandte Lord Malmesbury: "Eine totale Sittenverderbnis beherrscht beide Geschlechter aller Klassen, wozu noch die Dürftigkeit kommt, die notwendigerweise teils durch die vom jetzigen König ausgehende Besteuerung, teils durch die Liebe zum Luxus, die sie seinem Großvater abgelernt, herbeigeführt worden sind. Die Männer führen mit beschränkten Mitteln ein ausschweifendes Leben, die Frauen aber sind Harpyien ohne alle Scham. Sie geben sich dem preis, der am besten bezahlt, Zartgefühl und wahre Liebe sind ihnen unbekannte Dinge."

Mit am schlimmsten ging es in Berlin unter Friedrich Wilhelm II. zu, der von 1786 bis 1797 regierte. Er ging mit dem schlechtesten Beispiel seinem Volke voran. Sein Hofpfaffe Zöllner erniedrigte sich sogar dazu, ihm seine Mätresse, Julie v. Voß, als zweite Ehefrau anzutrauen. Und als diese bald nachher im ersten Wochenbett starb, ging abermals Zöllner darauf ein, ihn mit seiner zweiten Mätresse, der Gräfin Sophie v. Dönhoff, zu vermählen.

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Das schlechte Beispiel, das Friedrich Wilhelm II. am Ende des Jahrhunderts gab, hatten ihm einige seiner Herren Vettern schon zu Anfang des Jahrhunderts vorgemacht. Ende Juli 1706 ließ sich der Herzog Eberhard Ludwig von Württemberg seine Mätresse, die Grävenitz, die "Landverderberin", wie man sie noch heute in Württemberg nennt, als zweite Frau antrauen. Diese Ehe schloß ein junger Geistlicher, M. Pfähler, der Pfarrer in Mühlen a. N. war. Und Eberhard Ludwigs leiblicher Vetter, der Herzog Leopold Eberhard zu Mömpelgard, trieb es noch ärger, denn er besaß gleichzeitig drei Ehefrauen, von welchen obendrein zwei Schwestern waren. Von seinen dreizehn Kindern vermählte er zwei miteinander. Das Verhalten dieser Landesväter rief zwar große Entrüstung bei ihren Untertanen hervor, aber dabei bewendete es. Nur bei dem Herzog von Württemberg gelang es kaiserlicher Intervention im Jahre 1708, die Ehe mit der Grävenitz rückgängig zu machen. Aber diese ging bald darauf mit einem verkommenen Grafen v. Würben eine Scheinehe ein und blieb nunmehr noch zwanzig Jahre lang die Geliebte des Herzogs und die "Landverderberin" für Schwaben.

2. Der Merkantilismus und die neue Ehegesetzgebung

Das Wachstum der Fürstenmacht seit dem sechzehnten Jahrhundert und der damit beginnenden Ära der größeren Staatenbildungen hatte zur Gründung der stehenden Heere geführt, die nicht ohne erhebliche Steuerlasten unterhalten werden konnten, wozu noch das verschwenderische Leben an den meisten Höfen kam, das Unsummen erforderte.

Diese Ansprüche konnten nur durch eine zahlreiche und steuerfähige Bevölkerung gedeckt werden, und so suchten die verschiedenen Regierungen, namentlich der größeren Staaten, vom achtzehnten Jahrhundert ab, durch entsprechende Maßregeln Bevölkerungszahl und Steuerfähigkeit nach Möglichkeit zu heben.

Der Weg dazu war gegeben durch die soziale und ökonomische Umwälzung, die, wie erwähnt, die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas und die Entdeckung des Seewegs nach Ostindien hervorgerufen hatte und jede neue Erdumsegelung förderte. Diese Umwälzung ergriff zunächst Westeuropa, später aber auch Deutschland. Die neuen Verkehrswege hatten neue Handelsbeziehungen von bisher un-

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bekannter und ungeahnter Ausdehnung geschaffen. Portugiesen, Spanier, Niederländer, Engländer suchten in erster Linie von dem Umschwung der Dinge zu profitieren. Aber auch Frankreich und schließlich auch Deutschland gewannen davon. Letzteres war durch die Religionskriege und seine politische Spaltung am meisten geschädigt worden und wirtschaftlich am weitesten zurückgeblieben. Die neuen Weltmarktsbedürfnisse, hervorgerufen durch Eröffnung immer neuer Absatzgebiete für europäische Gewerbe- und Industrieerzeugnisse, revolutionierten nicht nur die handwerksmäßige Produktionsweise, sondern auch die Anschauungen, das Fühlen und Denken der europäischen Völker und ihrer Regierungen.

An Stelle der bisher ausschließlich handwerksmäßigen Produktion, die nur für die täglichen Bedürfnisse des Ortes und dessen nächste Umgebung arbeitete, trat die Manufaktur, das heißt die Massenproduktion durch Anwendung einer größeren Zahl von Arbeitern bei möglichst entwickelter Arbeitsteilung. Der Kaufmann mit größeren finanziellen Mitteln und weiterem Blicke wurde der Leiter dieser neuen Produktionsform, durch die das Handwerk zum Teil ersetzt, zum Teil verdrängt, aber auch die zünftlerische Organisation desselben zerstört wurde. Damit war eine Periode eingetreten, in der auch wieder die Frau ihre Kräfte in gewerblicher Tätigkeit anwenden konnte. Der hausindustrielle oder fabrikmäßige Betrieb in der Leinenerzeugung, der Wollspinnerei und Weberei, der Wirkerei, der Tuchschererei, der Posamentenherstellung usw. eröffnete ihr ein großes Fell ihrer Tätigkeit. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts waren bereits an 100.000 Frauen und 80.000 Kinder in den Spinnereien, Webereien und Druckereien Englands und Schottlands beschäftigt, allerdings vielfach unter Arbeitsbedingungen, die in bezug auf Lohn und Dauer der Arbeitszeit als haarsträubend bezeichnet werden müssen. Ähnlich lagen die Verhältnisse in Frankreich, wo um dieselbe Zeit ebenfalls Zehntausende von Frauen in zahlreichen Fabriken beschäftigt wurden.

Diese ökonomische Entwicklung forderte aber mehr Menschen, und da diese in den Eroberungskriegen des sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts in Europa und jenseits der Meere stark vermindert worden waren, mit Anfang des achtzehnten Jahrhunderts auch die Auswanderung nach überseeischen Gebieten begann, so stellte sich für die vorgeschritteneren Regierungen das erhöhte Bedürfnis heraus, die Eheschließung und die Niederlassung zu erleichtern.

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Das durch seine Weltmachtpolitik frühzeitig an Menschen ausgepowerte Spanien sah sich deshalb bereits 1623 genötigt, ein Gesetz zu erlassen, wonach alle Personen, die zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr ehelichten. auf eine Reihe Jahre von allen Abgaben und Steuern befreit wurden. Unbemittelten Personen wurde sogar aus öffentlichen Kassen eine Mitgift gewährt. Ferner wurde Eltern, die wenigstens sechs männliche eheliche Kinder am Leben hatten, volle Steuer- und Abgabenfreiheit zugesagt. Auch begünstigte Spanien die Einwanderung und die Kolonisation.

In Frankreich sah sich Ludwig XIV. genötigt, der Menschenverwüstung, die er durch seine Kriege herbeigeführt hatte, dadurch entgegenzuwirken, daß er allen Taillepflichtigen, und dazu gehörte die sehr große Mehrheit der Bevölkerung, wenn sie vor dem 21. oder 20. Lebensjahr heirateten, auf vier bzw. fünf Jahre Abgabefreiheit bewilligte. Volle Abgabenfreiheit wurde ferner allen Taillepflichtigen gewährt, die zehn lebende Kinder hatten, von denen keines Priester, Mönch oder Nonne geworden war. Edelleute mit der gleichen Zahl Kinder, von denen keines geistlich geworden war, erhielten eine jährliche Pension von 1.000 bis 2.000 Livres, und die der Taille nicht unterworfenen Bürger erhielten unter den gleichen Bedingungen die Hälfte dieser Summe. Der Marschall Moritz von Sachsen riet sogar Ludwig XV. an, Eheschließungen nur auf die Dauer von fünf Jahren zuzulassen.

In Preußen suchte man durch Verordnungen in den Jahren 1688, 1721, 1726, 1736 und entsprechende staatliche Maßregeln die Einwanderung zu begünstigen. namentlich die der in Frankreich und Österreich wegen ihrer Religion Verfolgten. Die Bevölkerungstheorie Friedrichs des Großen kommt drastisch in einem Briefe zum Ausdruck, den er am 26. August 1741 an Voltaire richtete, dem er schrieb: "Ich betrachte die Menschen als eine Herde Kirsche in dem Wildpark eines großen Herrn, die keine andere Aufgabe haben, als den Park zu pöblieren." Er hat allerdings durch seine Kriege die Notwendigkeit geschaffen, daß sein Wildpazk wieder pöbliert wurde. Auch begünstigte man in Österreich, Württemberg und Braunschweig die Einwanderung und erließ in diesen Staaten wie in Preußen Auswanderungsverbote. Ferner beseitigten im achtzehnten Jahrhundert England und Frankreich alle Eheschließungs- und Niederlassungshindernisse - Beispiele, denen andere Staaten folgten. In den ersten drei

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Vierteln des achtzehnten Jahrhunderts betrachteten die Nationalökonomen, wie die Regierungen, eine große Bevölkerungszahl als Ursache der höchsten Glückseligkeit der Staaten. Erst mit dem Ende des achtzehnten und dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts trat wieder ein Umschlag ein, hervorgerufen durch große ökonomische Krisen und revolutionäre und kriegerische Ereignisse, die in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sich fortsetzten, speziell im südlichen Deutschland und Österreich. Man erhöhte jetzt wieder das Alter, in dem eine Ehe geschlossen werden durfte, und verlangte für die Eheschließung den Nachweis eines bestimmten Vermögens oder eines gesicherten Einkommens und eine bestimmte Lebensstellung. Den Mittellosen wurde die Schließung einer Ehe unmöglich gemacht, und man räumte namentlich den Gemeinden einen großen Einfluß auf Festsetzung der Aufnahme- und Eheschließungsbedingungen ein. Man verbot sogar hier und da den Bauern die Errichtung sogenannter Tagewerkshäuser oder verordnete, wie in Bayern, das noch bis in die Jetztzeit eine rückständige Heimatsgesetzgebung besitzt, die Niederreißung der ohne kurfürstlichen Konsens erbauten Tagewerkshäuser an. Nur in Preußen und Sachsen blieb die Ehegesetzgebung vergleichsweise liberal. Die Folge dieser Ehebeschränkungen war, daß, da die menschliche Natur sich nicht unterdrücken läßt, allen Hemmnissen und Scherereien zum Trotz Konkubinatsverhältnisse in Menge entstanden und die Zahl der unehelichen Kinder in manchen deutschen Kleinstaaten an die Zahl der ehelichen nahe heranreichte. Das waren die Wirkungen eines väterlichen Regiments, das sich auf seine Moral und sein Christentum etwas zugute tat.

3. Die Französische Revolution und die Großindustrie

Die verheiratete Frau des Bürgerstandes lebte in jener Zeit in strenger häuslicher Zurückgezogenheit; die Zahl ihrer Arbeiten und Verrichtungen war eine so große, daß sie als gewissenhafte Hausfrau von früh bis spät auf dem Posten sein mußte, um ihren Pflichten zu genügen, und das war ihr nur mit Hilfe ihrer Töchter möglich. Es waren nicht bloß die täglichen häuslichen Arbeiten zu verrichten, die auch noch heute die kleinbürgerliche Hausfrau zu verrichten hat, sondern auch noch viele andere, von welchen die Frau der Gegenwart

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durch die moderne Entwicklung befreit worden ist. Sie mußte spinnen, weben, bleichen, die Wäsche und die Kleider selber fertigen, Seife kochen, Lichter ziehen, Bier brauen, kurz, sie war das reine Aschenbrödel und ihre einzige Erholung der Kirchgang am Sonntag. Eheschließungen kamen nur innerhalb desselben gesellschaftlichen Kreises vor, der strengste und lächerlichste Kastengeist beherrschte alle Verhältnisse. Die Töchter wurden in dem gleichen Geiste erzogen und in strengster häuslicher Klausur gehalten; ihre geistige Ausbildung war unbedeutend, und ihr Gesichtskreis ging nicht über den Rahmen der engsten häuslichen Beziehungen hinaus. Dazu kam ein leeres und hohles Formenwesen, das Bildung und Geist ersetzte und das Leben der Frau zu einem wahren Tretmühlengang machte. Der Geist der Reformation war in das ärgste Zopftum ausgeartet, die natürlichsten Triebe im Menschen und seine Lebensfreudigkeit wurden unter einem Wust von "würdig" vorgetragenen, aber geisttötenden Lebensregeln erstickt. Hohlheit und Beschränktheit beherrschten das Bürgertum, und was hinter diesem stand, lebte unter dem bleiernen Drucke und unter den kümmerlichsten Bedingungen.

Es kam die Französische Revolution, die in Frankreich die alte staatliche und gesellschaftliche Ordnung hinwegfegte, aber auch einen Hauch ihres Geistes nach Deutschland sandte, dem auf die Dauer das Alte nicht mehr widerstehen konnte. Speziell die französische Fremdherrschaft hatte für Deutschland die Wirkung einer Revolution; sie stürzte das Alte, Abgelebte oder beschleunigte, wie in Preußen, seinen Sturz. Und was auch immer in der Reaktionsperiode nach 1815 versucht wurde, um das Rad der Zeit wieder zurückzudrehen, das Neue war zu mächtig geworden und blieb schließlich Sieger.

Zunftprivilegien, persönliche Gebundenheit, Markt- und Bannrechte wanderten allmählich in den vorgeschritteneren Staaten in die Rumpelkammer. Neue technische Verbesserungen und Erfindungen, vor allem die Erfindung und Verbesserung der Dampfmaschine und die daraus folgende weitere Verbilligung der Waren, sorgten für Massenbeschäftigung, speziell auch der Frauen. Die große Industrie feierte ihre Geburt. Fabriken, Eisenbahnen und Dampfschiffe wurden geschaffen, der Bergbau, der Hüttenbetrieb, die Glas- und Porzellanmanufaktur, die Textilindustrie in ihren verschiedenen Zweigen, der Maschinenbau, die Werkzeugfabrikation, das Bauwesen usw. wuchsen empor; Universitäten und technische Hochschulen lieferten die

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geistigen Kräfte, die diese Entwicklung benötigte. Die neuaufkommende Klasse, das kapitalistische Großbürgertum, die Bourgeoisie, unterstützt von allen, die dem Fortschritt huldigten, drängte auf Beseitigung der immer unhaltbarer gewordenen Zustände. Was die Revolution von unten in den Bewegungsjahren von 1848 und 1849 ins Wanken gebracht, beseitigte die Revolution von oben des Jahres 1866. Es kam die politische Einheit nach dem Herzen der Bourgeoisie, der die Niederwerfung der noch vorhandenen wirtschaftlichen und sozialen Schranken folgte. Es kam die Gewerbefreiheit, die Freizügigkeit, die Aufhebung der Ehebeschränkungen, die Niederlassungsfreiheit, kurz jene ganze Gesetzgebung, der der Kapitalismus zu seiner Entwicklung bedurfte. Neben dem Arbeiter war es speziell die Frau, die von dieser neuen Entwicklung profitierte, die ihr freiere Bahn schuf.

Schon vor der neuen Ordnung der Dinge durch das Jahr 1866 waren eine Anzahl Schranken in verschiedenen deutschen Staaten gefallen und hatten verzopfte Reaktionäre veranlaßt, den Untergang von Sitte und Moral zu prophezeien. So klagte bereits 1865 der Bischof von Mainz, Herr v. Ketteler. "daß die Niederreißung der vorhandenen Schranken der Eheschließungen die Auflösung der Ehe bedeute, denn nunmehr sei es den Ehegenossen möglich, nach Belieben auseinanderzulaufen", eine Klage, die ungewollt das Einverständnis enthält, daß die moralischen Bande in der heutigen Ehe so schwache sind, daß nur der stärkste Zwang die Ehegenossen zusammenhält.

Der Umstand nun, daß die gegen früher viel zahlreicher geschlossenen Ehen eine rasche Bevölkerungszunahme bewirkten und das unter der neuen Ära sich riesenhaft entwickelnde Industriesystem viele früher nicht gekannte soziale Übelstände schuf, rief ähnlich wie in früheren Perioden wieder die Angst vor Übervölkerung hervor. Es wird sich zeigen, was diese Furcht vor Übervölkerung zu bedeuten hat; wir werden sie auf ihren wahren Wert zurückführen.



Datum der letzten Änderung : Jena, den : 30.11.2012